O-sechi ryōri
Japanische Neujahrsgerichte werden, in schön lackierten Holzschachteln angerichtet, während des dreitägigen Festes im Familienkreis gegessen. Mit vielfältiger Symbolik stehen sie für Gesundheit, Reichtum und Studienerfolg.
O-sechi ryōri, japanische Neujahrsspeisen ©iStock/mitchii
Der Jahreswechsel gilt in Japan als wichtige Zäsur. Weit entfernt von Tanzvergnügen, Champagner und glitzernden Kleidern ist Neujahr ein familiäres und religiöses Fest, das seit Einführung des Gregorianischen Kalenders im Jahr 1873 auf den 1. Januar fällt. Davor feierten Japaner den Jahreswechsel wie in China, Korea, Vietnam und anderswo in Asien am ersten Tag des Mondkalenders im Februar, der zugleich die Rückkehr des Frühlings ankündigte. Zahlreiche traditionelle Bräuche begleiten den Jahreswechsel.
Neues Jahr, neuer Anfang
Das japanische Neujahrsfest o-shogatsu symbolisiert einen Neubeginn. Die Japaner bereiten sich ab Mitte Dezember auf das Fest vor. Sie schütteln die Tatamis aus, reinigen gründlich das ganze Haus, reparieren oder ersetzen Beschädigtes... Sie schliessen laufende Geschäfte ab, begleichen Schulden, um das alte Jahr wirklich hinter sich zu lassen und das neue, für das man sich Erfolg und Glück wünscht, sorgenfrei willkommen zu heissen. Nach der Reinigung schmücken sie den Hauseingang beidseitig mit einem kadomatsu, einem Blumenschmuck aus Kiefern- und Bambuszweigen, der wegen seiner Kälteresistenz Gesundheit und langes Leben symbolisiert. Der Pflanzschmuck dient der Jahresgottheit als Behausung, die sich dort einige Tage niederlässt, um mit den Menschen zu feiern. Am Abend des 31. Dezember wird gewöhnlich das toshi-koshi soba gegessen, was wörtlich übersetzt ‚Nudeln des Übergangs ins Neue Jahr‘ heisst. Die langen Buchweizen-Nudeln sind Sinnbild langen Lebens, während die Suppe wärmt, bevor man zum Tempel aufbricht, um den 108 Glockenschlägen zu lauschen... Macht die Silvestersuppe einen eher schlichten Eindruck, so findet das eigentliche Festmahl am Morgen des 1. Januar statt, nachdem man den ersten Sonnenaufgang des neuen Jahres (hatsuhinode) bewundert hat.
O-sechi ryōri als Symbol des Glücks
Im Schneidersitz, die Stäbchen in der Hand1, bedient sich jedes Familienmitglied am kalten Buffet des o-sechi ryōri, der „Küche der grossen Bankette, in Erinnerung an die einstigen Mahle anlässlich der prachtvollen Neujahrsfeste im kaiserlichen Palast."2 Es handelt sich um eine besondere Speisezusammenstellung, deren Ursprung bis in die Heian-Zeit (794-1185 n. u. Z.) zurückreicht. Einst zu Feierlichkeiten zu Beginn jeder Jahreszeit serviert, entwickelten sich diese Speisen später zu speziellen Elementen des Neujahrsgerichts, das den wichtigsten Jahreszeitenwechsel im Jahr ankündigt: die Rückkehr des Frühlings, die Rückkehr des Lebens. Die vorab zubereiteten Speisen halten sich ungekühlt mehrere Tage. Da sie grosse Anteile Essig, Salz oder Zucker enthalten, sind sie auf natürliche Weise konserviert. Die möglichst abwechslungsreiche und vielseitige Komposition wird in lackierten Holzschachteln, den jūbako, präsentiert, die über mehrere Fächer verfügen und stapelbar sind.
Das Mahl besteht aus einer breiten Speisenauswahl, basierend auf Wurzelgemüse, Fisch, Algen und Meeresfrüchten. Die kleinen Portionen werden mit besonderem Wert auf Ästhetik zubereitet. Durch Form, Farbe oder Namen vertritt jede Speise einen Wunsch für das neue Jahr.
Das o-sechi ryōri bereitet traditionell die Mutter in den letzten Dezembertagen zu - ein zeitaufwändiges Unterfangen, da die Speisen die gesamte Familie drei Tage lang verköstigen sollen. Denn der Brauch will, dass von Neujahr bis einschliesslich 3. Januar nicht gekocht wird – eine Vorsichtsmassnahme, um Unfälle beim Kochen (Verbrennungen, Schnittwunden oder Brände) als schlechtes Omen für das beginnende Jahr zu vermeiden. Da an diesen Tagen niemand arbeitet, besucht die Familie Freunde und Bekannte, wobei kleine Geschenke überreicht und traditionelle Bräuche ausgeübt werden.
Die Lotosblume für einen klaren Blick auf die Zukunft
Zu den für Neujahr zubereiteten Wurzelgemüsen gehört die Klettenwurzel gobo, ein in Japan verbreitetes Nahrungsmittel. Für das Festgericht wird gobo mit anderen Wurzeln fein geschnitten, in Essig mariniert und anschliessend mit Sesam (kinpira gobo) verfeinert oder in Stücke geschnitten gekocht und mit einem Holzstössel weich geklopft (tataki gobo). Die kräftige Wurzel wächst tief in der Erde und symbolisiert deshalb Stärke und Gesundheit. Ein anderes Gemüse des Neujahrsfests ist die in Scheiben geschnittene Lotuswurzel. Sie wird in Essig gelegt (subasu) oder gebraten und mit süsser Sojasosse (renkon no netsuke) abgeschmeckt: In beiden Fällen stehen die zahlreichen Löcher der Lotuswurzel für einen freien und klaren Blick in die Zukunft3.
Der Kuchen kuri kinton wird aus japanischen Süsskartoffeln (satsuma imo) bereitet, gemischt mit gezuckertem Kastanien-Püree (kuri). Seine goldene Farbe und kinton (‚der Schatz‘) symbolisieren Reichtum. Weisser Rettich (daikon) und Karotten dienen zur Zubereitung des kōhaku namasu, ein in feine Stifte geschnittener, mit süssem Essig gewürzter und mit yuzu (einer mandarineähnlichen Zitrusfrucht) abgerundeter Gemüsesalat. Bei dieser Speise ist die Kombination von Rot und Weiss bedeutungsvoll: sie symbolisiert Glück und Festlichkeiten.
Sardinen für eine reiche Reisernte
Zur Fischzubereitung gehört tazukuri aus getrockneten, in Sojasosse gekochten und mit Sesam bestreuten Sardinen. Das kanji (‚Schriftzeichen’)4 bedeutet ‚Reisfelder bepflanzen‘, da die Fischchen ursprünglich zur Düngung der Reisfelder dienten5. Tazukuri steht somit für reiche Ernte.
Die Rotbrasse kommt wegen ihres Namens tai zum Neujahrsfest; er erinnert an das japanische Wort medetai (günstig, glücklich). Die in Sake und Sojasosse gekochten Garnelen ebi sind eine typische Speise des o-sechi ryōri. Ihr gebogener Rücken symbolisiert langes Leben: sie stehen für den Wunsch nach einem friedlichen Leben bis ins hohe Alter, das den Rücken krümmt6. Heringseier (kazunoko), Hinweis auf viele Kinder, wünschen Fruchtbarkeit. Wer Heringseier nicht mag, aber dennoch Nachwuchs wünscht, kann der japanischen Bitterorange (daidai) zusprechen: Ihr kanji (‚Schriftzeichen’) bedeutet ‚von Generation zu Generation’7.
Von den Speisen für das o-sechi ryōri erfreut datemaki vor allem Studenten: ein süsses, mit Garnelen oder Fischpaste verfeinertes Omelett, das gerollt und in Scheiben geschnitten wird. Es erinnert an eine Manuskriptrolle und stellt Wissen und Glück im Studium dar. Erwachsene im besten Alter werden bei kuro mame mehrmals zugreifen, einer Speise aus tiefschwarzen Sojabohnen, die für Gesundheit und Arbeit steht.
Sinkende Beliebtheit
Obwohl es sich um einen alten Brauch handelt, ist o-sechi ryōri heute nicht mehr so beliebt wie früher. Die Vorarbeit dauert lang, und immer weniger Frauen bereiten es selbst zu. Seit den 1970er Jahren bietet der Handel die komplexe Speisezusammenstellung an8. Heute lässt sie sich über das Internet und bei renommierten Restaurants bestellen oder im nächsten Supermarkt kaufen. Eine Studie stellte fest, dass zwei Drittel aller kamaboko, ein Fischkuchen, fertig zubereitet gekauft werden9.
Die Speiseauswahl des o-sechi ryōri ist mit der Aufnahme anderer kulinarischer Traditionen, besonders aus China (chūkafū o-sechi) und dem Westen (seiyō o-sechi) vielfältiger geworden. Manche Geschäfte bieten sogar Zusammenstellungen zu Fantasiethemen mit Figuren aus Disney-Comics an! Wie man sich auch entscheidet, die Fertigmenüs sind nicht billig: Ein o-sechi für zwei oder drei Personen kostet ungefähr 11 500 Yen. Luxusversionen kennen keine Preisgrenzen!
Die Beliebtheit des traditionellen o-sechi ryōri sank auch wegen veränderter Erährungsgewohnheiten. Früher markierte das exquisite Mahl einen aussergewöhnlichen Moment jenseits des Alltäglichen und der gängigen Ernährung - ein Gaumenfest, dessen Besonderheit aber durch das tägliche Angebot exotischer Speisen verlorenging.
Das o-sechi wird heute mehr als ‚traditionell‘ denn als ‚exquisit‘ betrachtet10. Manche Japaner sind seiner überdrüssig und essen am ersten Tag des Jahres etwas anderes. Dagegen bereiten im Ausland lebende, an Heimweh leidende Japaner das o-sechi selbst zu, um die Feststimmung des Jahresbeginns zu verlängern. Die Japanerin Mariko Hashimoto aus New York erzählt: „There are some things we make only at this time of year. Cooking brings back the smell of home, the snow on the roof, the sound of the gongs from New Year’s Eve.“11 [Manches bereiten wir nur zu dieser Jahreszeit zu. Das Kochen bringt den Geruch der Heimat, den Schnee auf dem Dach, den Klang der Gongschläge am Neujahrstag zurück.]