Ernährungssicherheit
Zu gleichen Teilen. Ernährungssicherheit und Rationierung
Stich, der die Verteilung von Brot an Einwanderer darstellt, die 1709 in England ankommen, Neu eröffneter Historischer Bildersaal, Deutschland, 1727, S.526, AL4066
Der Begriff „Ernährungssicherheit“
„Ernährungssicherheit herrscht dann, wenn alle Menschen jederzeit physischen und wirtschaftlichen Zugang zu ausreichender, sicherer und nahrhafter Nahrung haben, die ihren diätetischen Bedürfnissen und Nahrungspräferenzen entspricht, um ein aktives und gesundes Leben zu führen.“ Welternährungsgipfel, Rom, 1996
Der Begriff „Ernährungssicherheit“ wurde 1974 auf der ersten Welternährungskonferenz geprägt, um auf die Hungersnöte in der Welt zu reagieren. Er bezog sich auf die globale Governance, die notwendig ist, um sicherzustellen, dass „jederzeitige Verfügbarkeit einer angemessenen weltweiten Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, um eine Ausweitung des Lebensmittelverbrauchs zu unterstützen und Produktions- und Preisschwankungen auszugleichen“ gewährleistet ist. Infolgedessen wurden bedeutende Produktionsanstrengungen unternommen, insbesondere bei Getreide, um die Verfügbarkeit und Stabilität der globalen Versorgung zu gewährleisten.
1996 erweiterte der Welternährungsgipfel in Rom die Definition von Ernährungssicherheit auf den physischen, sozialen und wirtschaftlichen Zugang zu ausreichender und nahrhafter Nahrung für alle Menschen. Die Herausforderungen haben sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt und umfassen nun auch Fragen des gleichberechtigten Zugangs und der Widerstandsfähigkeit gegenüber aktuellen Krisen. Seither wird die Ernährungssicherheit auf verschiedenen Ebenen bewertet: individuell, familiär, gemeinschaftlich, national und kontinental. Denn selbst in den wohlhabendsten Ländern leiden Teile der Bevölkerung an Hunger oder Unterernährung.
Die Schweiz misst der Ernährungssicherheit seit langem grosse Bedeutung bei
Sie ist bestrebt, den Nahrungsbedarf ihrer Bevölkerung unter allen Umständen zu decken. Das gebirgige Terrain und die begrenzte landwirtschaftliche Nutzfläche stellten in der Vergangenheit eine Herausforderung für die Nahrungsmittelproduktion und -verfügbarkeit dar und führten zu Hungersnöten wie im Jahr 1816. Als Reaktion darauf verfolgten die Schweizer Behörden eine Politik der Selbstversorgung, um die Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten zu verringern. Agrarreformen versuchten, die Produktivität zu steigern und die Praktiken zu modernisieren. Bereits 1808 wurde in Hofwil (Bern) eine der weltweit ersten landwirtschaftlichen Lehr- und Forschungsanstalten gegründet. Während der beiden Weltkriege litt die Schweiz jedoch unter Nahrungsmittelknappheit und führte Rationierungssysteme ein, die insgesamt 15 Jahre dauerten! In der Nachkriegszeit haben Subventionen und Förderprogramme die inländische Produktion angekurbelt und die Preise stabilisiert. Heute fördert der Staat eine nachhaltige Landwirtschaft und unterstützt die Forschung, um neuen Herausforderungen wie den Auswirkungen von Umweltveränderungen auf die Produktion zu begegnen.
« Kornhaus », Zürich, Schweiz © Arkitekturfotograf Rasmus Norlander
Mit einer Höhe von 118 Metern und einer Lagerkapazität von bis zu 40.000 Tonnen Getreide ist die Swissmill das zweithöchste Gebäude in Zürich und zugleich das höchste aktive Getreidesilo der Welt. Das Gebäude verdeutlicht die strategische Bedeutung von Getreidereserven für die Ernährungssicherheit eines Landes.
Die moralischen Grundlagen eines Prinzips der Lebensmittelrationierung
Die moralischen Grundlagen eines Prinzips der Lebensmittelrationierung beruhen auf Überlegungen der Fairness, der Verteilungsgerechtigkeit und der Solidarität. In Krisenzeiten wie Kriegen, Naturkatastrophen oder Pandemien kommt es häufig zu einer Verknappung von Nahrungsmitteln, da die Nachfrage das Angebot übersteigt und es zu Hungersnöten kommen kann. Durch Rationierung soll sichergestellt werden, dass jeder Mensch einen gerechten Zugang zu den Vorräten hat, die er zum Überleben und zur Erhaltung seiner Gesundheit benötigt. Dahinter steht der Gedanke, dass alle Menschen das Recht auf eine angemessene Ernährung haben und dass die Ressourcen gerecht und verhältnismässig verteilt werden müssen, wobei die Grundbedürfnisse jedes Einzelnen zu berücksichtigen sind. Dies bedeutet für manche Menschen individuellen Verzicht zugunsten des Gemeinwohls, um Leid und Ungerechtigkeit zu minimieren. Letztlich ist das Prinzip der Lebensmittelrationierung in Krisenzeiten Ausdruck der universellen Werte der Menschenwürde und der kollektiven Verantwortung, die sicherstellen sollen, dass niemand zurückgelassen wird und alle einen gerechten Zugang zu den Nahrungsressourcen haben.
Brotkarte, Steffisburg, Bern, Schweiz, 1919, AL4070 © Alimentarium
Das aktuelle globale Ernährungssystem basiert auf einer Form der landwirtschaftlichen Produktion, die insgesamt nicht nachhaltig ist
Er stellt paradoxerweise eine der grössten Bedrohungen für die Ernährungssicherheit dar. Überfischung, moderne Landwirtschaft und Viehzucht sind unbestreitbar die historischen Ursachen für den exponentiellen Verlust an biologischer Vielfalt, der das natürliche Gleichgewicht stört. Dieses Gleichgewicht ist jedoch essenziell, um die Widerstandsfähigkeit von Nutzpflanzen, Böden und Ökosystemen zu gewährleisten. Diese Biodiversitätskrise, die inzwischen als „sechstes Massenaussterben“ bezeichnet wird, hat bereits direkte Auswirkungen auf die Nahrungsmittelproduktion. Mehr noch als der Klimawandel, der die Ernteerträge bereits deutlich reduziert, bedroht der Verlust der biologischen Vielfalt die „Ökosystemdienstleistungen“, die die Landwirtschaft seit Jahrtausenden unterstützen, wie die Bestäubung von Nutzpflanzen, die Regulierung von Schädlingen, die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit und das Funktionieren des Wasser- und Nährstoffkreislaufs der Pflanzen. Hinzu kommen die Auswirkungen extremer Wetterereignisse, die Jahr für Jahr auf allen fünf Kontinenten zu immer grösseren Ernteausfällen führen.
Sprühen von Herbiziden © Getty Images Signature
Die Sammlung des Alimentariums enthält interessante Zeugnisse aus der Zeit der Hungersnöte
Wir präsentieren hier Gegenstände aus der Schweiz und anderen Ländern, die von diesen schwierigen Zeiten zeugen. Eine Tafel erinnert an die Teuerung der Grundnahrungsmittel während der Hungersnot von 1816, von der die Schweiz wie viele andere Länder der Welt betroffen war. Ein Militärkeks steht für die 87.000 hungernden Soldaten der französischen Armee unter General Bourbaki, die im Januar 1871 in der Schweiz Zuflucht fanden. Ein Stück Brot stamt von der Belagerung von Paris 1870–1871, bei der nicht nur Hunde und Katzen gegessen wurden, sondern auch die Tiere des Zoos! Ein weiteres Stück Brot zeugt vom Hunger der „evakuierten Franzosen in Deutschland“ im Jahr 1914. Verschiedene Dokumente illustrieren die 15 Jahre Lebensmittelrationierung in der Schweiz während und nach den beiden Weltkriegen, darunter Kriegsrezepte oder Einmachgläser für die häusliche Vorratshaltung. Überlebensrationen, wie sie in Zivilschutzräumen zu finden sind, erinnern an die Rolle des Staates bei der Vorbeugung und Bewältigung von Lebensmittelknappheit. Es finden sich auch "Surrogate", billigere und minderwertige Produkte, die in Erwartung der Wiederkehr des Überflusses konsumiert werden.