Ein rebellierender Magen
Alles war vielversprechend: Das Hotel am See, das Essen und die Chance fĂŒr neue Begegnungen...
Alles war vielversprechend: Das Hotel am See, das Essen und die Chance fĂŒr neue Begegnungen. Ein angenehmes GefĂŒhl durchflutete Lea, als sie durch die goldene PalasttĂŒre ging. Die Aufregung, die sie zuvor ĂŒberfallen hatte und dazu zwang, dicht an den GebĂ€uden mit den billig blinkenden Schildern entlangzugehen, war nur noch eine blasse Erinnerung. Sie betrat stolz den Bankettsaal und fĂŒhlte sich geehrt, an der WohltĂ€tigkeitsgala der âTaubeâ teilzunehmen, einem der beliebtesten Abende der Stadt.
Sie liess sich schnell von der fröhlichen Stimmung im Saal anstecken, freute sich ĂŒber ihr Geschick im zwischenmenschlichen Umgang und hĂŒpfte, virtuos wie ein Kolibri, von einer GesprĂ€chsgruppe zur nĂ€chsten. Sie war nicht zufĂ€llig hier, sondern aus der festen Absicht, der High Society der Stadt zu begegnen. Sie sah sich in einem der Spiegel, die ĂŒbereinander an den mit Stuck und Wandteppichen verzierten WĂ€nden hingen, und meinte, alles im Griff zu haben. Das schwarze Etuikleid, die Stöckelschuhe, die gekonnte Art am Cocktail zu nippen ̶ so wie andere einen kostbaren Stoff berĂŒhren: mit spitzen Fingern und Lippen. Also perfekt! Sie wollte den Abend unter den bekannten Gesichtern der Finanzwelt, Unterhaltung und Politik bestmöglich geniessen. Doch schon bat eine Stimme aus dem Mikrofon, alle sollten sich doch an die gedeckten Tische setzen. Lea konnte sich kaum zurĂŒckhalten das Messer zu ergreifen, um sich darin zu spiegeln. Vom silbernen Geschirr bis hin zu den weissen gestĂ€rkten Tischdecken war alles sehr edel!
âMeine Liebe!â, sagte ein Mann in weinrotem Anzug mit zufriedenem LĂ€cheln und lud Lea ein, sich zu einem Namensschild zu setzen, das er als ihres identifiziert hatte. Alle im Saal waren begeistert von dem kleinen Spiel, anhand der Tischordnung herauszufinden, wer neben wem sitzt. Man sollte sich in diesem Augenblick auserwĂ€hlt fĂŒhlen und glauben, in der allerbesten Gesellschaft zu sein. Dazu kam, dass in diesem komödiantischen Stimmengewirr von Ah! und Oh! die Worte des Moderators auf der BĂŒhne untergingen. FĂŒr Lea wurde die Situation noch schlimmer. Der Mann im Anzug ignorierte nicht nur die Mikrofonstimme, sondern auch, dass es fĂŒr ein GesprĂ€ch mehrere braucht. UnglĂŒcklicherweise war er der direkte Nachbar der jungen Frau. In wenigen Minuten und, ohne dass jemand gefragt hĂ€tte, hatte er bereits sein ganzes Leben ausgebreitet und zĂ€hlte all seine Erfolge im Warenhandel auf.
-Â âMeine Mutter, diese tapfere Frau, sagte mir als kleiner Junge: âSpiel nicht mit dem Essen!â Nun, ich war eindeutig ungehorsamâ, brummelte er.
WĂ€hrend er in dieser Art weiterschwatzte, wandte sich Lea der Betrachtung des Tisches zu, griff nach der MenĂŒkarte und liess sich die erlesenen Köstlichkeiten im Munde zergehen: âSĂŒppchen mit Hummerravioli, Zucchinirolle mit gebratener Foie Gras, geschmorte Tintenfisch- und Manukahonig-Mousseline, Kalbsfilet mit Steinpilzen und Safranblattspinatâ. Das lĂ€sst sich nicht noch poetischer formulieren, ausser mit einem MenĂŒ in Versen, dachte Lea.
Sie blickte um sich und musste feststellen, dass es kein Entkommen gab, ihr Nachbar ĂŒbertönte immer noch alle am Tisch. Eben wurde der erste Gang serviert, und jeder schien froh, mit Messer und Gabel bewaffnet die Prahlerei des guten Mannes ein wenig besser ertragen zu können. Die Ă€ltere Dame neben Lea, die bisher vor allem durch das Klimpern ihres Schmucks aufgefallen war, lachte plötzlich aus unerfindlichem Grund. Sie wandte sich Lea zu und erzĂ€hlte ihr etwas, das weder zum laufenden GesprĂ€ch beitrug, noch wirklich witzig war. Doch Lea merkte daran, dass ihre GesprĂ€chspartnerin sich langweilte. Dann erzĂ€hlte ihr die Dame von den Abenteuern eines gewissen Alfred, ein makelloses Wesen, das immer bereit war, wem auch immer einen Gefallen zu tun, nur um gestreichelt zu werden. Lea folgerte daraus, dass es sich um einen Hund handelte. Die Dame hatte ihren Teller bisher nicht angerĂŒhrt, sie sei Vegaaanerin, erklĂ€rte sie. Sie ruderte mit den Armen, und Lea, die gerade ihren Zwischengang probieren wollte, wurde von einer berauschenden Patchoulliduftwolke eingehĂŒllt. Von da an und bis zum letzten Löffel tĂ€uschte sie ihr Geruchsinn so sehr, dass sie den Meeresgeschmack der Ravioli nicht mehr wahrnahm, und das HummersĂŒppchen wie eine gewöhnliche Suppe schmeckte.
-Â âMeine Liebe, Sie sehen blass aus. Sie sollten sich ein Glas Sassicaia einschenken lassen. Frauen, die trinken, sind modern!â, rief er laut.
Kaum hörte er auf, sich ĂŒber Frauen lustig zu machen, ging er zu einem Thema ĂŒber, das ebenso fehl am Platz war, wie sich herausstellen sollte. Er sprach ĂŒber intensive Tierhaltung und das mit so anschaulichen Worten, dass die SchweinehĂ€lften in ĂŒbelster Weise in Leas Kopf herumzutanzen begannen. In diesem Moment hob die behandschuhte Hand des Kellners die runde Edelstahlhaube ab und prĂ€sentierte den nĂ€chsten Gang. Seltsam, sagte sie sich: Es gab eine Zeit, da bestand der Luxus darin, SchwĂ€ne und Pfauen in ihrer ganzen Pracht samt dem Gefieder zu servieren, so wie sie aus dem Schilf auftauchten. Heute besteht die höchste KreativitĂ€t darin, alles wegzulassen, was durch Borsten, GrĂ€ten, Knochen oder Knorpel zu sehr an das ursprĂŒngliche Wesen erinnert. Alles muss in winzigen Portionen serviert werden, um den GĂ€sten zu beweisen, dass sie nur das Beste vom Besten bekommen. Deshalb wurde die Zucchinirolle mit gebratener Foie Gras in der Mitte eines riesigen Tellers angerichtet. Die dekorative Verzierung des Tellers erinnerte Lea an die sparsamen Pinselstriche eines manischen KĂŒnstlers. Doch genau in dem Moment, als sie das Gericht kosten wollte, entschied sich der Typ neben ihr, es sich bequem zu machen. Er hatte viel geredet und schien sich nun von allem befreien zu wollen, was ihn einengte. Er löste seine Krawatte, machte sein Hemd und sogar seinen GĂŒrtel auf, was ihm den Schweiss auf die Stirn trieb. Im nĂ€chsten Moment war sein Teller leer. Er hatte alles verschlungen. Danach tupfte er mit seiner Serviette seinen Nacken ab. WĂ€hrend der Abend fĂŒr die Menschen, die den Anlass genossen, weiterging, spĂŒrte Lea einen seltsamen Geschmack in sich aufsteigen. Mit Verachtung betrachtete sie ihre Foie Gras, die vor sich hin schwitzte, und schauderte beim Gedanken, zum Besteck zu greifen, wissend, welche Konsistenz sie auf der Gabel haben wĂŒrde. Und tatsĂ€chlich, als sie sich entschied, es zu tun, fĂŒhlte sie, wie sich ihr Mund ĂŒber einer warmen, weichlichen Masse schloss. Das GefĂŒhl hielt weiter an, die Masse klebte wie SaugnĂ€pfe an der Speiseröhre. Sie nahm einen grossen Schluck Sassicaia.
- âNun, meine Liebe, sollten wir uns nicht etwas nĂ€her kommen? Ich verrate Ihnen ein kleines Geheimnis. Als ich heute Abend Ihre liebenswerte Erscheinung in der Menge entdeckte, wusste ich sofort, dass Sie eine dieser Frauen sindâ.
Um sein Talent im Umgang mit dem schönen Geschlecht zu beweisen, zwinkerte er ihr mit seinem dicken Augenlid zu â oder versuchte es zumindest. Die weiteren Aussichten des Abends liessen Lea verĂ€rgert aufseufzen. Das Erkerfenster, in dem sich ihr Blick verlor, um der NĂ€he dieses Typen zu entgehen, zeigte ihr das Unwetter, das draussen tobte. Anstatt sie zu beruhigen, löste das Spektakel wie der ganze Saal eine Art Seekrankheit aus.
Er hörte nicht auf, ĂŒber seine Arbeit zu reden, und schwadronierte ĂŒber Weizenpreis, Angebot und Nachfrage und andere Marktgesetze. Seine Thesen oder vielmehr seine groben Spiessermanieren liessen in Lea Bilder aufsteigen, die unwillkĂŒrlich Ekel auslösten. Die Situation wurde noch heikler, als er es fĂŒr angebracht hielt, eine moralische Rede ĂŒber Biochemie im Dienste der ErnĂ€hrung zu halten.
- âEin wahres Wunder! Die Vermehrung von Brot und Fisch in moderner Form!â, posaunte er in seiner feuchten Aussprache. Lea verfolgte das Bild Tausender Pangasius-Fische, die mit dem Bauch nach oben und verdrehten Augen an der OberflĂ€che eines stinkenden Wassers treiben, und Lachsen mit von der Chemie bis zum Zerplatzen aufgedunsenen BĂ€uchen.
- âKrankheiten... welche Krankheiten?â, konterte er mit leiser Verachtung einen unwissenden Frager. âDafĂŒr gibt es Antibiotika. Es gibt fĂŒr alles eine Lösung. Schauen Sie: Nehmen sie zum Beispiel den Lippenstift. Der macht schön â also, hĂŒbsch, mĂŒsste ich sagen, haha. Nun, Frauen werden mit Haifischleberöl schön gemacht. Meine Damen und Herren, man muss nur wissen, wo die Ressourcen sind und sie dann nutzenâ.
Er redete und kaute derweil mechanisch auf seinem Tintenfisch herum, wobei sein Mund wie ein Trichter fungierte.
Von da an begann Lea, die Dinge nicht mehr so zu sehen, wie sie in Wirklichkeit waren, sondern so, wie ihre Stimmung sie ihr eingaben. Als das Hauptgericht auf den Tisch kam, wurde unwillkĂŒrlich klar, wie recht ihr rĂŒpeliger Nachbar hatte: Um der Langeweile zu entkommen, trank sie zu viel. Wieder hob sich die Haube vom Teller ̶ und sie konnte nur noch mit MĂŒhe schlucken.
-Â âKalbsfilet an Steinpilzen und Blattspinatâ, verkĂŒndete der Kellner feierlich.
Das rosagebratene Kalbsfilet vor ihr zuckte und fĂŒhrte ein Eigenleben. Es rebellierte, weil es zwischen grĂŒnlichen BlĂ€ttern liegen musste. Lea zögerte lange. WĂŒrde ihr Magen dieses zuckende Etwas behalten können? Der erste Bissen löste unmittelbar ein fauliges Aufstossen aus, als ob sich das Essen in der Speiseröhre einen grausamen, gnadenlosen Nahkampf bis zur Zerstörung der Zellen lieferte ̶ Fasern gegen Nerven, Schuppen gegen Fleisch und Hautschicht. Die Tischnachbarn starrten sie unglĂ€ubig an: Die lebhafte junge Frau hatte eben gerĂŒlpst.
Der Abend war auf seinem Höhepunkt angelangt, als am Mikrofon die Tombola angekĂŒndigt wurde. Es war Zeit zu wetten. Die GĂ€ste kannten die Spielregeln und beteiligten sich eifrig mit dicken, auffĂ€llig sichtbar im offenen Portemonnaie liegenden NotenbĂŒndeln am Spiel. Lea war die einzige mit Verdauungsproblemen.
- âWissen Sie, dass ich bereits mein Testament gemacht habe?â, rief die schmuckbehangene Dame plötzlich dazwischen, als wĂ€re die Tombola der richtige Moment, um seine wie auch immer gearteten Besonderheiten auszubreiten. âHeutzutage muss man vorausplanen. Ich bin eine recht vermögende Grossmutterâ.
Sehr zu Leas Erleichterung ĂŒbernahm ihr Nachbar mit alkoholtrunkener Stimme das GesprĂ€ch und zeigte plötzlich Interesse an der alten Dame. Lea hörte ein kurzes hĂ€misches Auflachen der beiden und verstand, ohne es zu wollen, worum es bei der Spöttelei ging â wie es der Dame gelungen war, alles ihrem Alfred, und nur ihm zu hinterlassen. Sie erzĂ€hlte nun, wie sie auch als Vegaaanerin weiterhin ihre Besuche in den besten Restaurants der Stadt genoss.
-Â âIch esse, was ich kann, und mein Alfred kĂŒmmert sich um den Restâ, sagte sie.
Diese Anekdote stimmte den guten Mann sofort heiter, der wie sie die seltsame Art hatte, sich ĂŒber Dinge zu amĂŒsieren, die andere peinlich fanden. Die Vorstellung eines Dackels mit schmutzigen Pfoten und wedelndem Schwanz, der mit Ermunterung seiner Herrin den Porzellanteller ausleckt, war zu empörend. Lea stand abrupt auf, ging Richtung Ausgang und liess das Dessert und ihre Tischnachbarn stehen. Sie ging nach Hause, fest entschlossen, diesen desaströsen Abend aus ihrem GedĂ€chtnis zu streichen. Es gelang ihr einigermassen. Doch am nĂ€chsten Tag beim FrĂŒhstĂŒck schlug sie die Zeitung auf und las einen Artikel ĂŒber den Gala-Abend. Es gab auch ein Bild dazu, das zwei in die Kamera lĂ€chelnden Personen zeigte, die ihre von renommierten Sponsoren gestifteten bunten Preise prĂ€sentierten. Er trug einen schlampig aussehenden weinroten Anzug und die schmuckbehangene Frau funkelte wie ein Weihnachtsbaum. In der Bildlegende stand: âDie Krönung des Abends war die Tombola, dank der einige angesehene Persönlichkeiten nicht mit leeren HĂ€nden nach Hause gehen mussten.â
Dies war der Moment, an dem ihr Magen endgĂŒltig rebellierte. Sie rannte ins Badezimmer.
Estelle Trisconi
âŻâŻâŻâŻâŻâŻâŻâŻ
Diese Kurzgeschichte wurde mit dem zweiten Preis des im Herbst 2020 vom Alimentarium veranstalteten Wettbewerbs Ăber Nahrungsekel schreiben ausgezeichnet.
(Ăbersetzt vom französischen Original ins Deutsche)

