Ernährungssysteme und nationale Stereotypen
Mit der Einstellung des Skylab-Programms und der Reduzierung des Budgets in den 1980er-Jahren nahm die Entwicklung der Ernährungssysteme eine scharfe Wendung vom Heroischen zum Sparsam-Praktischen. Mit den gemeinsamen Essbereichen und speziell angefertigten Zubereitungsinstrumenten war Schluss; stattdessen gab es jetzt die universellen Retortenbeutel aus Plastik mit praktischem Strichcode zur Kennzeichnung des Inhalts und mit Klettband, sodass die Astronauten die Packung nach Belieben dort befestigen konnten, wo sie gerade essen wollten.
Das Essen selbst wird jetzt nur noch zum Teil durch die NASA selbst entwickelt, vieles davon besteht einfach nur aus kommerziellen Esswaren in anderer Verpackung (insbesondere M&Ms bekommt im Weltall jede Menge Gratiswerbung). Ohne Kühlsystem muss alles bei Zimmertemperatur haltbar sein, d. h. gefriergetrocknet oder thermostabilisiert, was besonders bei der Konsistenz grosse Einschränkungen mit sich bringt. Das Kochen erfolgt jetzt mit Hilfe eines in die Stationswand eingelassenen automatisierten Wassertanks oder in einem ausgeklügelten erhitzbaren Koffer, der mit Klettband an der Wand befestigt wird. Besonders rührend sind die Gewürze und Würzsossen in den haargenau gleichen Kunststoffpäckchen, wie man sie in Fastfood-Imbissen überall auf der Welt findet: Sie werden in einer Plastiktüte mit nach oben geschickt und erinnern unweigerlich an die gehamsterten Ketchup-Vorräte in den Autos vieler Amerikaner.
ESA astronaut food during a CAVES 2012 tasting session. Developed by Italian company Argotech the food is freeze-dried, has a shelf-life of 36 months, salt free and organic.
A muesli bar developed for ESA astronauts on the International Space Station made with Spirulina and goji berries.
Spirulina has been harvested for food in South America and Africa for centuries. It turns carbon dioxide into oxygen, multiplies rapidly and can also be eaten as a delicious protein-rich astronaut meal.
ESA astronaut food during a CAVES 2012 tasting session. Developed by Italian company Argotech the food is freeze-dried, has a shelf-life of 36 months, salt free and organic.
A muesli bar developed for ESA astronauts on the International Space Station made with Spirulina and goji berries.
Spirulina has been harvested for food in South America and Africa for centuries. It turns carbon dioxide into oxygen, multiplies rapidly and can also be eaten as a delicious protein-rich astronaut meal.
Das war der letzte Stand im amerikanischen System. Seit der Einstellung des Space-Shuttle-Programms wird im Weltall nur noch in der Internationalen Raumstation gegessen, wo sich die nationalen Stereotypen rund ums Essen auf reizvolle Weise zeigen. Die eine Hälfte der Station ist natürlich nach dem amerikanischen System ausgestattet – mit pragmatischen kommerziellen Produkten. Die andere Hälfte passt genau ins rustikale Image des russischen Raumfahrtprogramms unter dem Motto «Bloss nichts reparieren, was nicht kaputt ist». Es gibt keine Plastikverpackungen; fast alles wird in Konserven oder Tuben mitgeführt. Statt vorwiegend kommerziellen Produkten aus dem Supermarkt gibt es Delikatessen wie Räucherfisch und Quark mit Nüssen, wie sie von älteren Frauen liebevoll zubereitet wurden. Statt die Nahrung mit heissem Wasser an einer Wand stehend zu erhitzen, sitzen alle gemeinsam an einem richtigen Esstisch, an dem sie ihr Essen in eingelassenen Öffnungen im Tisch erhitzen können.
Die Krönung der auch nach dem Kalten Krieg bestehenden nationalen Stereotypen kommt von den Franzosen. Alain Ducasse hat nicht nur die Weltraummahlzeit für Charles Simonyi kreiert; in Zusammenarbeit mit der französischen Raumfahrtbehörde entwickelt er auch «Mahlzeiten für besondere Anlässe» oder wie Ducasse selbst es nennt, «Essen für extremen Genuss», wie es eben nur ein Franzose herbeizaubern kann.
Es gibt einige legendenhafte Geschichten über kulturelle Spannungen auf der ISS. So soll es kurz nach der Zusammenkopplung der russischen und amerikanischen Module zu einem Konflikt gekommen sein. Es ging darum, ob man nach russischer Art gemeinsam essen, oder jeder für sich nach Bedarf einen Imbiss zu sich nehmen sollte, wie das die Amerikaner machten. Es heisst, die Kosmonauten wären über die mangelnden Umgangsformen der Amerikaner so empört gewesen, dass sie einen improvisierten Esstisch bauten, an dem alle Platz hatten, und mit einer Protestaktion forderten, dass alle Stationsbewohner wenigstens einmal am Tag gemeinsam essen sollten. Es gibt zwar keine verbürgte Aussage, wie die Sache ausging oder ob sie überhaupt so stattgefunden hat. Aber gemessen an den Hunderten von Fotos, auf denen alle ISS-Bewohner gemeinsam auf der russischen Seite essen, darf wohl davon ausgegangen werden, dass eine Entspannung in den internationalen Beziehungen erzielt werden konnte. Von eventuellen Beschwerden über die Gerichte von Alain Ducasse ist nichts bekannt.