Superfood
Goji-Beeren, Chiasamen, Grünkohl – Verbraucher lieben solch positiv besetzten Nahrungsmittel. Doch halten die ihr Versprechen auch?
Superfood – ein boomender Markt. ©Shutterstock/Signe Leth
Sie stammt aus China, wo die längliche, rote, süssliche Goji-Beere als ‚Frucht des langen Lebens‘ bekannt ist. Sie soll das Immunsystem stärken, den Blutdruck senken und die Libido verbessern. Ihre Fans schreiben ihr weitere Vorzüge zu: Positive Wirkung auf Leber, Gedächtnis, Augen, Fruchtbarkeit, Verdauung und sogar den Geist.
Die Goji ist eine Königin des Superfood, dieser für die Gesundheit positiv besetzten Nahrungsmittel. Man findet sie neben der Acai-Beere, der Vitaminbombe aus Amazonien, und Chiasamen, einem an Omega-3-Fettsäuren reichen Salbei aus Mexiko. Noch kürzlich im Westen nahezu unbekannt, haben sie sich in den Bio- und Diät-Läden einen festen Platz erobert, um dann auch in die Supermärkte einzuziehen. Doch Superfood beschränkt sich längst nicht mehr auf exotische Früchte. Auch in unseren Breiten wachsende Pflanzen, besonders Heidelbeere, Brokkoli oder Rote Beete, erhalten vermehrt diesen schmeichelhaften Titel.
Symbolik und Fantasie
„Das Konzept des Superfood ist gut gewählt“, konstatiert Éric Birlouez, französischer Soziologe und Ernährungs-Historiker an den Universitäten Lille 1 und Paris-Descartes. „Der positiv besetzte Begriff erinnert an Superhelden und Superkräfte – und nicht an Gesundheit und Medizin.“ Der Experte schätzt, dass der um 2000 in Kalifornien entstandene Trend die Verbraucher fasziniert, weil sie bezüglich der Ernährung immer unsicherer werden.
„Die Vorstellung, dass die von der Nahrungsmittelindustrie verarbeiteten Produkte einen Teil ihrer Vorzüge in den Fabriken verlieren, schafft Misstrauen. Superfood hingegen verkörpert eine gewisse Art von Natürlichkeit. Es spielt eine ‚korrigierende‘ Rolle und vermittelt den Eindruck, industriell produzierte Nahrung leicht kompensieren zu können.“ Fast alle Superfoods sind pflanzlich – ein weiterer Pluspunkt in einer Zeit, in der vegetarische und vegane Ernährung Zulauf hat.
Éric Birlouez betont, dass die exotische Seite einiger Superfoods einen Teil ihres Erfolgs darstellt. „Dass sie aus dem Regenwald des Amazonas oder dem tibetanischen Hochland kommen, verleiht ihnen die Aura des Besonderen. Dieses Phänomen ist so alt wie die Erde selbst! Schon im 14. und 15. Jh. konsumierten die Reichen Gewürze nicht wegen ihres Geschmacks, sondern wegen ihres gesundheitlichen Nutzens, da sie von weither kamen und teuer wie Gold waren. Ausserdem erzählt Superfood heute eine Geschichte: Diejenige von Eingeborenen, die jene Früchte seit Urzeiten anbauen, essen und von modernen Zivilisationskrankheiten verschont bleiben. Wir befinden uns hier im Reich der Träume, der Symbolik und der Fantasie.“
Christine Schäfer vom Thinktank Gottlieb Duttweiler Institut Rüschlikon (bei Zürich) zieht eine Parallele zwischen Superfood und dem verbreiteten Wunsch, ein gesundes Leben zu führen, sowie der wachsenden ‚Quantified-self‘-Bewegung und Initiativen der ‚Selbst-Optimierung‘. „Der moderne Mensch zählt seine Schritte, die Anzahl der Kalorien, die er verbrennt, die Menge der Nahrung, die er zu sich nimmt – und Superfood scheint diesen Prozess zu vereinfachen. Man muss auch den Einfluss der sozialen Netzwerke und der Blogs von Stars berücksichtigen, die die Vorzüge dieser Produkte rühmen.“
Marketing-Konzept
Obst, Gemüse und besonders gesunde Pflanzen essen? Dieser Trend müsste eigentlich Ärzte und Ernährungswissenschaftler freuen. Doch sie reagieren mit Zurückhaltung. Erste Feststellung: Es gibt keinerlei wissenschaftliche Definition für Superfood. Der englische Begriff Superfood entstammt dem Marketing. „Manche Lebensmittel haben tatsächlich interessante Eigenschaften. Doch es gibt keine klare Grenze zwischen dem, was man als ein ‚normales‘ Nahrungsmittel ‚bezeichnet, und ‚Superfood‘“, betont Dimitrios Samaras, beratender Arzt an der ernährungswissenschaftlichen Abteilung der Universitätskliniken Genf. „In Europa ist es übrigens verboten, diesen Begriff auf den Etiketten von Verkaufswaren zu verwenden.“
„Es ist bewiesen, dass eine Ernährungsweise, die viel Obst und Gemüse enthält, positive Auswirkungen auf die Gesundheit hat“, bemerkt Olivier Potterat, Experte für Arznei- und Nahrungsmittelpflanzen an der Universität Basel. „Jedoch suggeriert Superfood, dass es Pflanzen mit Wunderkräften gibt, die man mehr als andere essen muss – und das ist falsch.“
Gelegentlich erheben wissenschaftliche Studien, publiziert in seriösen Zeitschriften wie dem American Journal of Clinical Nutrition oder dem British Journal of Nutrition, Nahrungsmittel in den Rang eines Superfood. Sie schreiben beispielsweise, dass die an Antioxidantien reiche Heidelbeere das Wachstum von Darmkrebszellen bremsen kann1 und eine Heilwirkung bei Altersvergesslichkeit haben soll2. Weiteres Beispiel: Studien zeigen, dass der Granatapfel den Blutdruck kurzfristig senken kann3.
Die Schlussfolgerungen daraus sind jedoch mit Vorsicht zu behandeln. Tatsächlich sind sie kaum anwendbar, wie das Europäische Informationszentrum für Lebensmittel (EUFIC) betont. Diese gemeinnützige Organisation mit Sitz in Brüssel, finanziert von Lebensmittelindustrie und EU-Kommission, äussert mehrere Kritikpunkte: Die Nahrungsmittel werden isoliert untersucht, die verwendeten Mengen sind mit realistischem normalem Ernährungsverhalten nicht erreichbar, die meisten Studien stammen von Tieren oder menschlichen Zellen in vitro.
Vorsicht vor Pestiziden
„Die positiven Wirkungen von Lebensmitteln stellen sich erst langfristig ein. Doch es ist schwierig, klinische Studien über eine sehr lange Dauer durchzuführen“, fährt Olivier Potterat von der Universität Basel fort. „Zudem besteht unsere Nahrung nicht aus reinen Substanzen wie ein Medikament, sondern aus einer Mischung tausender Substanzen, die gemeinsam auf den Organismus einwirken. Selbst wenn es gute Gründe für die Annahme gibt, dass der Verzehr dieser oder jener Frucht besonders gesundheitsförderlich ist, sind die exakten Auswirkungen nur schwer nachzuweisen.“ Ferner muss man zwischen Obst- und Gemüse-Konsum und dem Verzehr einiger ihrer Bestandteile in Form von Nahrungsergänzungsmitteln unterscheiden. Die Wissenschaft führt etwa das Beta-Karotin an, ein Bestandteil der Karotte. Epidemiologische Studien legen nahe, karotinreiche Ernährung könne das Krebsrisiko verringern könnte. Zwei klinische Studien haben hingegen gezeigt, dass hochdosierte Beta-Karotin-Kapseln bei starken Rauchern die Anzahl der Lungenkrebsfälle noch ansteigen liessen4.
Weiteres Argument gegen Superfood sind Pestizide. „Einige Produkte, vor allem aus exotischen Ländern, sind manchmal stark kontaminiert“, betont Olivier Potterat. „Das kann ihren positiven Effekt zunichte machen.“ Um 2010, auf dem Höhepunkt ihrer Popularität in Europa und den USA, schlug der Goji-Beere eine Welle der Kritik entgegen, da sie in China unter intransparenten Bedingungen produziert wurde und ihr Pestizidgehalt das erlaubte Maximum deutlich überstieg.
Dennoch will Dimitrios Samaras von den Universitätskliniken Genf das Konzept nicht gänzlich verdammen. „Man muss pragmatisch sein. Superfood – dabei handelt es sich zu 99% um Pflanzen – enthält in der Regel Nährstoffe, die für alle gut sind. Derzeit essen etwa 30% der schweizerischen Bevölkerung nicht die empfohlenen fünf Obst- und Gemüseeinheiten täglich. In den USA liegt dieser Anteil sogar bei 45%. Seit zwanzig Jahren kämpfen die staatlichen Behörden nun in Kampagnen darum, ohne ihr Ziel erreicht zu haben. Natürlich muss man verhindern, dass die Idee falsch interpretiert wird: Man darf nicht glauben, dass der Konsum von Superfood einen ausschweifenden Ernährungsstil kompensiert. Doch intelligent kommuniziert, kann das Konzept die Leute dazu bringen, eine Ernährung mit mehr Obst und Gemüse anzunehmen, was doch positiv ist. Also: Warum den Trend nicht nutzen?“
Auf jeden Fall sollte man darauf hinweisen, dass gesunde Lebensmittel nicht notwendig teuer oder exotisch sein müssen; es gibt zahlreiche regionale Äquivalenzen – Leinsamen, Brokkoli, Heidelbeeren, Cranberries, Himbeeren, Dinkel oder Buchweizen. Superfood kann so eine Brücke bauen und für abwechslungsreichen Obst- und Gemüse-Konsum werben.