Ernährungssystem und planetarische Grenzen.
Wie können wir eine Weltbevölkerung, die bis 2050 zehn Milliarden Menschen erreichen könnte, gesund und gerecht ernähren und dabei die Grenzen der Ökosysteme unseres Planeten respektieren?
Wie kann man sich das Zusammenleben von Menschen und dem Rest der Artenvielfalt, von Menschen und „Nicht-Menschen“, in unserer gemeinsamen „kritischen Zone“ vorstellen, jener dünnen Schicht des Lebens auf der Erdoberfläche, deren Gleichgewicht bedroht ist? Verschärft wird diese Herausforderung noch durch die sich bereits im Gange befindenden Umweltveränderungen, deren Auswirkungen auf das Klima nur eine Dimension darstellen. Muss die Landwirtschaft ihre Nahrungsmittelproduktion um ein Viertel steigern, um 25% mehr Menschen zu ernähren, obwohl sie gleichzeitig eine der Hauptquellen für Treibhausgasemissionen, Entwaldung und die Verschlechterung der Boden- und Wasserqualität ist? Wird die Intensivierung der Viehzucht und der extensiven Monokulturen die Ökosysteme zusätzlich belasten und zu einem unwiederbringlichen Verlust an biologischer Vielfalt führen?
Die wissenschaftliche Gemeinschaft hat seit Langem schon die Notwendigkeit eines komplexen Übergangs zu einer nicht nur nachhaltigen, sondern auch regenerativen Landwirtschaft aufgezeigt. Dazu gehört die Einführung von Verfahren wie Agrarökologie, Agroforstwirtschaft und integriertes Pflanzenmanagement, um die Bodengesundheit wiederherzustellen, die Widerstandsfähigkeit der Landwirtschaft zu verbessern und die Abhängigkeit von „Produktionsmitteln“ zu verringern. Darüber hinaus muss eine Reform des Bodenwesens mit einer gerechten Umverteilung der landwirtschaftlichen Ressourcen einhergehen. Um diese Übergänge zu unterstützen und den sozialen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Schutz der im Lebensmittelsystem Beschäftigten zu erhöhen, sind auch robuste Formen der lokalen und globalen Governance erforderlich. Ehrgeizige Massnahmen, Investitionen in die Agrar-, Wirtschafts- und Sozialforschung sowie internationale Zusammenarbeit sind unerlässlich, um weltweit eine nachhaltige Landwirtschaft und Fischerei zu fördern..
Der Stickstoffkreislauf als wichtiger Nährstoff für Kulturpflanzen
Stickstoff (N) ist ein essentielles Element für das Pflanzenwachstum. Die Auswirkungen von Stick stoffderivaten in Form von Nitrat in Düngemitteln sowie von Rinder- und Schweinegülle auf die Umwelt sind jedoch tiefgreifend und vielfältig. Überschüssiger Stickstoff aus Düngemitteln und Dung sickert in das Grundwasser und verunreinigt die Trinkwasserreserven, was zu ernsten Gesundheitsproblemen führt. Die Auswaschung von Stickstoff in Flüsse, Seen und Küstengewässer führt zu deren „Eutrophierung“, dem Wachstum schädlicher Algen, die den Sauerstoff verbrauchen und das Wasserleben abtöten. Darüber hinaus gelangen Stickstoffverbindungen in Form von Ammoniak und Stickstoffdioxid (N₂O) in die Atmosphäre, tragen zur Luftverschmutzung bei und verstärken als starke Treibhausgase den Klimawandel. Diese Probleme unterstreichen die dringende Notwendigkeit, das Management des Stickstoffkreislaufs in der Landwirtschaft zu verbessern, um die Umwelt und die menschliche Gesundheit zu schützen.
Die Zyklen von Phosphor und Kalium
Phosphor (P) und Kalium (K) werden in der Landwirtschaft als Düngemittel eingesetzt und steigern den Ertrag der Pflanzen, die sich von ihnen „ernähren“. Sie stammen hauptsächlich aus dem Bergbau und aus der Verdunstung von Salzwasser, was eine erste Form der Umweltbelastung darstellt. Werden diese „Inputs“ nicht vollständig von den Pflanzen aufgenommen, führen sie nach ihrer Anwendung zu erheblichen Belastungen, insbesondere in den Wasserkreisläufen. Das von den Anbauflächen abfliessende Wasser transportiert diese Elemente in Flüsse, Seen, Meere und Ozeane und trägt so zur „Eutrophierung“ bei: ein Algenwachstum, das den Sauerstoff im Wasser verbraucht und das Leben im Wasser bedroht. Der übermässige Einsatz dieser Düngemittel führt auch zu einem Ungleichgewicht der Nährstoffe im Boden, was über kurz oder lang die biologische Vielfalt und die Nachhaltigkeit der landwirtschaftlichen Nutzflächen gefährdet. Die Kontrolle der Phosphor- und Kaliumkreisläufe auf globaler Ebene ist daher von entscheidender Bedeutung.
Viehbestand, Methan und Klimawandel
Die weltweite landwirtschaftliche Produktion, insbesondere die intensive Viehhaltung zur Fleischproduktion, ist in den letzten zwei Jahrhunderten zu einer der Hauptquellen von Methanemissionen (CH₄) geworden. Methan entsteht hauptsächlich bei der Verdauung von Wiederkäuern wie Kühen, Schafen und Ziegen sowie bei der Entsorgung von tierischen Exkrementen auf Bauernhöfen. Methan ist etwa 25-mal wirksamer als Kohlendioxid (CO₂), wenn es darum geht, Wärme über einen Zeitraum von hundert Jahren in der Atmosphäre zu binden. Obwohl CO₂ häufiger vorkommt und länger in der Atmosphäre verbleibt, ist das kurzfristige Erderwärmungspotenzial von Methan daher wesentlich höher. Die Reduzierung der Methanemissionen aus der Viehzucht ist daher von entscheidender Bedeutung, um die Auswirkungen der globalen Erwärmung kurzfristig zu mildern, während gleichzeitig die CO₂ Emissionen aus anderen industriellen und landwirtschaftlichen Aktivitäten reduziert werden müssen, um längerfristige Wirkungen zu erzielen.
Landwirdschaftliche Produktion, Kohlendioxid und Klimawandel
Die Landwirtschaft ist seit Jahrhunderten eine der Hauptquellen für die Emission von Kohlendioxid (CO₂). Der intensive Einsatz von dieselbetriebenen Landmaschinen ist eine Ursache. Vier Jahrhunderte Abholzung zur Vergrösserung der landwirtschaftlichen Nutzfläche sind eine andere. Weniger bekannt sind die Folgen des tiefen Pflügens der Böden auf Millionen Hektar, die seit dem Industriezeitalter für die Landwirtschaft gerodet wurden. Ähnlich wie bei der Abholzung von Wäldern wurde dabei der darin enthaltene Kohlenstoff in Form von Biomasse freigesetzt. Hinzu kommt die massive Produktion chemischer Müngemittel und Pestizide, die auf fossilen Energieträgern basieren. Wenn jedoch die Regeneration der Böden als Kohlenstoffsenken und Träger der Biodiversität Vorrang vor kurzfristigen Gewinnen hätte, könnten die Landwirtschaft und ihre Techniken zu wichtigen Verbündeten im Kampf für die Umwelt werden und gleichzeitig die weltweite Ernährungssicherheit gewährleisten.
Überfischung und Verlust der marinen Biodiversität
Der Umfang der Fischerei in den Ozeanen ist seit dem 19. Jahrhundert explosionsartig angestiegen und hat zu einem besorgniserregenden Rückgang der biologischen Vielfalt der Meere geführt. Viele Arten sind heute ausgestorben oder vom Aussterben bedroht. Die Fangmethoden sind im Verhältnis zu den Ressourcen exzessiv geworden, insbesondere die Tiefseefischerei mit „pelagischen Schleppnetzen“ und „Treibnetzen“, der Einsatz von Fischkonzentrationsgeräten und das Abpumpen von Krill. Die Sardelle ist heute der am meisten gefangene Fisch der Welt. Sie wird hauptsächlich zur Herstellung von Fischmehl verwendet, das an Geflügel, Schweine und Zuchtfische verfüttert wird. Mehr als 80 % des produzierten Fischmehls wird heute für die Aquakultur verwendet. Der Klimawandel verschärft diese ohnehin kritische Situation, indem er die Ozeane erwärmt, sie durch den Anstieg des CO₂-Gehalts im Wasser übersäuern lässt und ihren Salzgehalt durch das Abschmelzen des Eises verringert, was das Überleben der Meerestiere zusätzlich gefährdet.
Der globale Verlust der Biodiversität
Die landwirtschaftliche Produktion hat erheblich zum drastischen Rückgang der biologischen Vielfalt weltweit beigetragen. Der intensive Einsatz von Herbiziden, Insektiziden und Fungiziden hat Böden, Luft und Wasser kontaminiert, Ökosysteme gestört und Tiere, Pflanzen und Mikrobiome vergiftet. Mikroplastik, insbesondere aus Lebensmittelverpackungen, findet sich in Böden und Meeren und bedroht die Nahrungsnetze. Die Verdichtung der Böden durch intensive Landwirtschaft verringert ihre Porosität und Gesundheit und damit ihre Fähigkeit, mikrobielles und pflanzliches Leben zu unterstützen. Abholzung und tiefes Pflügen zur Ausweitung von Ackerbau und Viehzucht zerstören natürliche Lebensräume, und die Ausrottung von Tierarten, die als Schädlinge gelten, hat zu einem weiteren ökologischen Ungleichgewicht geführt. Etwa eine Million Arten sind derzeit bedroht und sterben in einem noch nie dagewesenen Tempo aus, was zu einer schweren und irreversiblen Krise der globalen Biodiversität führt.
Ohne Wasser kein Leben, keine Nahrung
Auf dem „blauen Planeten“ gibt es nur 3 % Süsswasser (H₂O) und nur etwa 1% davon ist für den menschlichen Gebrauch leicht zugänglich. Von diesem zugänglichen Süsswasser sind fast 60 % künstlich geschaffen, vor allem durch Stauseen und Kanäle, und etwa 70 % werden für die landwirtschaftliche Produktion verwendet. Klimawandel, Umweltverschmutzung und Übernutzung gefährden die Süsswasserressourcen und beeinträchtigen ernsthaft die von ihnen erbrachten „Ökosystemdienstleistungen“ wie Wasserreinigung, Klimaregulierung, Hochwasserschutz oder die Erhaltung aquatischer Lebensräume und ihrer Biodiversität. Konflikte um den Zugang zu oder die Kontrolle über Süsswasser gibt es seit Menschengedenken. Ihre Häufigkeit und Intensität haben mit dem Bevölkerungswachstum und dem Druck auf die Umwelt zugenommen, was geopolitische Spannungen verschärft, die globale Sicherheit bedroht und grosse Migrationsströme auslöst. Allein in neun von 195 Ländern konzentrieren sich 60 % der Flussgewässer.
Auswirkungen des Klimawandels auf die Agrarproduktion
Extreme Wetterereignisse (Dürren, Orkane, Hagel, Überschwemmungen, usw.) können Ernten vernichten und zu erheblichen wirtschaftlichen Verlusten und Nahrungsmittelknappheit führen. Steigende Temperaturen beeinflussen die Ernteerträge, indem sie die Photosynthese reduzieren. Sie begünstigen auch das Auftreten neuer Schädlinge und Pilze, die die Nutzpflanzen grossflächig bedrohen. Der Anstieg des Meeresspiegels verschlechtert die Bedingungen für die Küstenlandwirtschaft und verringert die Produktionskapazität in verschiedenen anfälligen Regionen. Der Anstieg des CO₂-Gehalts in der Atmosphäre kann zwar zunächst das Pflanzenwachstum fördern, führt aber langfristig zu einer Verringerung des Nährwerts und der Erträge. Diese Phänomene, deren Auftreten und Ausmass unvorhersehbar und unberechenbar sind, gefährden die globale Ernährungssicherheit und die Nachhaltigkeit der Agrarsysteme. Ohne einen Paradigmenwechsel wird das derzeitige Produktionssystem weiterhin die Bedingungen für seinen eigenen Niedergang schaffen.
Land und Meere zwischen Erhalt und Nutzung aufteilen
Das globale Ernährungssystem steht vor der gewaltigen Herausforderung, bis zum Jahr 2050 eine Bevölkerung von schätzungsweise zehn Milliarden Menschen zu ernähren. Um 25 % mehr Menschen als heute gesund und gerecht zu ernähren ist es nach Ansicht von Klima- und Umweltwissenschaftlern absolut notwendig, mindestens 50 % der Landfläche und der Meere von jeglicher Nutzung freizuhalten. Dies ist undenkbar ohne eine Weiterentwicklung der Governance des Ernährungssystems auf allen Ebenen (lokal, national und international), um die Produktion vorrangig auf die Befriedigung der objektiven Bedürfnisse der gesamten Menschheit auszurichten und nicht nur auf die der geografisch oder wirtschaftlich am stärksten begünstigten Bevölkerungsgruppen. Eine aufgeklärte Regierungsführung auf allen Ebenen muss eine ausgewogene Ernährung fördern, die die Fähigkeit des Planeten, menschliches Leben und biologische Vielfalt zu erhalten, respektiert.
Auf dem Weg zu einem nachhaltigeren Ernährungssystem? Wer sollte eine Auswahl treffen? Wer muss die Verantwortung übernehmen?
Das globale Ernährungssystem ist ein komplexes Netzwerk mit einer Vielzahl von Akteuren, die alle eine entscheidende Rolle für sein Funktionieren und seine Entwicklung spielen. Es bietet mehr als einer Milliarde Menschen Arbeit. Je nach Kontext bestimmen Landwirt*innen sowie Eigentümer*innen von landwirtschaftlichen Betrieben, andere Lebensmittelhersteller*innen und -verarbeiter*innen mehr oder weniger frei die Anbau- und Produktionsmethoden. Diese haben einen direkten Einfluss auf die Ökosysteme und die menschliche Gesundheit. Vertriebsunternehmen und Einzelhändler gestalten die Lieferketten und den Zugang zu Lebensmitteln. Industrielle Produzenten sowie professionelle Köche wählen Zutaten und Verfahren aus, die mehr oder weniger umwelt- oder gesundheitsfördernd sind. Sie bestimmen das „Angebot“.
Staaten und internationale Organisationen erlassen Gesetze und Vorschriften, die die Arbeitsbedingungen in verschiedenen Wirtschaftszweigen, landwirtschaftliche und kommerzielle Praktiken sowie die Qualitätskontrolle der auf den Markt gebrachten Lebensmittel regeln (sog. Governance). Darüber hinaus geben sie Empfehlungen für die Ernährung heraus. Wissenschaftler*innen und NGOs sensibilisieren und sind innovativ, um gesundheits- und umweltverträgliche Lösungen zu finden.
Die Verbraucher*innen schaffen durch ihr Kaufverhalten die „Nachfrage“. Sie tragen direkt dazu bei, dass sich das Ernährungssystem in Richtung nachhaltigerer Praktiken entwickelt. Grundsätzlich bestimmt jeder Mensch mehr oder weniger frei und aufgeklärt, wie er sich ernähren möchte. Jede Familie kann entscheiden, was sie ihren Mitgliedern bieten möchte, hat jedoch nicht notwendigerweise die Mittel dafür.
Durch ihre Wahl, ihre Entscheidungen und ihre Handlungen haben alle Akteurinnen und Akteure des Ernährungssystems und der Governance die Macht, zu einer gesünderen und nachhaltigeren Ernährung beizutragen.
Also, wie positionieren Sie sich als Konsumentin oder Konsument, Bürgerin oder Bürger, Elternteil oder Ernährungsfachkraft? In Bezug auf die aktuelle Entwicklung des Ernährungssystems und dessen Nachhaltigkeitsherausforderungen?
Welche Erwartungen oder Forderungen haben Sie an die anderen Protagonist*innen bzw. Stakeholder dieses Systems im Hinblick auf einen gerechteren Zugang zu Nahrungsmitteln?