Anders als bestimmte Tiere, wie Ratten zum Beispiel, legt der Mensch sich im Dunkeln zur Ruhe. «Im Dunkeln zu essen, bringt uns in einen Konflikt», erklärt Karyn Julliard. «Essen ist für das Gehirn ein überaus anregender Vorgang. Mitunter jedoch ist der Stress, den die Dunkelheit auslöst, grösser als der Hunger. Das kann so weit gehen, dass sogar das Sättigungsgefühl gestört ist. Die Angst vor der Dunkelheit bedingt, dass wir uns weniger auf die Wahrnehmung der Speisen konzentrieren.»
“Schwer zu sagen, was man isst, wenn man es nicht sieht.”
Die Küchenchefs kombinieren hochwertige, frische saisonale Produkte mit Gewürzen und Aromen zu einem Verwirrspiel für die Sinne. «Unsere Köche wählen einfache, bekannte Produkte und verarbeiten sie so, dass die Sinne gefordert sind», so Camille Leveillé. «Knusprig trifft auf weich, gekocht auf roh ...» Die Rezepte sind mit Absicht so gewählt, dass sie Geschmacks- und Geruchssinn in die Irre führen. Bei unserem Besuch gibt es eine Mousse aus Mango und Guacamole, Jakobsmuschel mit Salbei und Kalbstartar als Vorspeise, Rinderfilet an Bitterschokoladensosse, Süsskartoffelpüree und -chips, Safran-Bulgur und Salat von jungem Spinat als Hauptgang und zum Abschluss Mandelkuchen, Baiser sowie ein Schokodessert mit Piment d'Espelette.
Terrasse des Pariser Restaurants <em>Dans le noir</em> ? an der Rue Quicampoix.
<strong>Vorspeise:</strong><br />
Mango- und Guacamoleverrine mit Ingwer-Walnusssahne<br />
Gegrillte Jakobsmuschel an Salbei<br />
Marinierter Kalbstartar mit gebratenen Zwiebelringen
<strong>Hauptgang:</strong><br />
Rinderfilet an Bitterkakaosauce<br />
Püree und Chips von der Süsskartoffel<br />
Knuspriges Blätterteigkörbchen gefüllt mit Safranbulgur, Selleriewürfeln und grünen Linsen<br />
Salat von jungem Spinat und Granny Apfel mit Rosenwasser-Vinaigrette
<strong>Nachspeise:</strong><br />
Mandelkuchen mit flambierter Banane<br />
Baiser mit Ananaskompott und Chutney von Papaya, Guave und Maracuja<br />
Schokoladen-Entremet mit Haselnüssen und Piment d'Espelette
Zwar gelang es einigen Gästen, die eine oder andere Zutat zu erkennen, die meisten jedoch kamen ohne optischen Eindruck schnell an ihre Grenzen. «Am Geruch und an der Konsistenz liess sich das Meiste schon erkennen: rotes Fleisch, Salat, Chips. Nicht aber, dass das Süsskartoffel war oder Bulgur, was ich für gewöhnlich nicht esse», erzählt Élodie.
Monsieur Le Coz stellte fest, dass er ohne seine Augen aufgeschmissen wäre. «Das Essen hat zwei Stunden gedauert. Ich hatte keinerlei Zeitgefühl. Ich kann auch nicht sagen, dass es wirklich ein Genuss war, weil ich die Aromen einfach nicht wahrgenommen habe. Guacamole als Vorspeise, Schokoladenkuchen als Dessert, das habe ich mir ungefähr gedacht, aber sicher war ich mir nicht. Verkoster im Dunkeln ... das könnte ich nicht!» Nicht ohne Grund: Wie mir Karyn Julliard später erläutert, «erfolgt unsere Wahrnehmung von Speisen weniger über den Geschmack als über die retronasale Wahrnehmung des Geruchs.» Dadurch werden Sinnesrezeptoren in der Nasenhöhle angeregt, die Informationen direkt an das Gehirn senden. Wenn wir nichts sehen, ist das für uns besonders irreführend, weil die Erkennung der Nahrung beim Menschen zuerst über die visuelle Wahrnehmung erfolgt. Hat man sich einmal daran gewöhnt hat, dass diese beeinträchtigt ist, dann kann man sich auf das konzentrieren, was man isst. Was dann bleibt, um Aromen im Mund zu erfassen, ist die retronasale Wahrnehmung des Geruchs und die Wahrnehmung des Geschmacks.»
Herr Le Coz bekam das Überraschungsmenü von seiner Tochter geschenkt.
Die Familie Kicallies kam auf Initiative der Grossmutter, die ihrer Familie die Thematik « Behinderung « näherbringen wollte.
Guillaume (Mitte) und seine Freunde sind gekommen, um zu versuchen herauszufinden, welche Getränke und Speisen ihnen im Dunkeln serviert wurden.
Herr Le Coz bekam das Überraschungsmenü von seiner Tochter geschenkt.
Guillaume, ein junger Ingenieur und Weinliebhaber, zeigt sich eher enttäuscht: «Wenn man nicht sieht, was man isst, überraschen die Aromen und man irrt leicht bezüglich dessen, was man auf dem Teller hat. Ich fand aber vor allem die Wahl der Weine irreführend. Die sind so ausgewählt, dass man sie nicht erkennt.» Was die Direktorin bestätigt. Die Forscherin Karyn Julliard ergänzt: «Wenn man farbloses Minzwasser rot einfärbt, meinen die meisten Menschen, Erdbeer und Grenadine herauszuschmecken. Das ist ein klassisches Experiment, um zu zeigen, wie sehr unser Erkennen von Nahrungsmitteln dem visuellen Eindruck unterliegt.» Jüngsten Untersuchungen zufolge lassen sich bei Önologen und Parfümeuren Veränderungen in einem Bereich des Gehirns nachweisen, die bei den meisten Menschen, die nur über eine sehr kleine neuronale Zone für den Geruch verfügen, nicht vorliegen. Karyn Julliard: «Wir nehmen eher die Konsistenz, warm und kalt und ganz allgemein das Mundgefühl wahr.»
Sicher ist: Ein gemeinsames Mahl im Dunkeln verbindet. «Wir haben viel gelacht», bestätigt Elodie. «Der einen ist die Gabel runtergefallen, ein anderer hat etwas Wasser verschüttet. Dadurch wurden alle etwas lockerer und entspannter im Umgang miteinander.» Die Stimmung war so gelöst, dass selbst Unbekannte miteinander angestossen haben! Ein Abenteuer also, sowohl zwischenmenschlich wie geschmacklich, das für die Grenzen unserer Wahrnehmungsfähigkeit sensibilisiert und einlädt, sie auszuloten.