Industrie-Raum
Die Lebensmittelindustrie – von „Revolution“ zu „Revolution“
La fabrique de lait condensé de Guin, Suisse, 1875-1917, AL500_2, D.R. ©Alimentarium
Sobald die Lebensmittel nicht mehr direkt vom Erzeuger zum Verbraucher gelangen, sind verschiedene kleine und grosse Unternehmen an der Herstellung, Verarbeitung, Beschaffung, Konservierung, Verpackung und dem Vertrieb von Lebensmitteln beteiligt. Alle diese Aktivitäten bilden zusammen die sogenannte „Lebensmittelindustrie“. Historisch gesehen, seit der Entstehung von Städten und Märkten in der Antike, hat dieser Wirtschaftszweig stetig an Bedeutung gewonnen und profitiert von der Befriedigung der Bedürfnisse und des Appetits der Verbraucher. In der Geschichte der Lebensmittelindustrie gab es viele Meilensteine, die ihren Weg geprägt und die weltweite Lebensmittelproduktion sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht beeinflusst haben. Vier dieser Meilensteine werden hier erläutert.
- Der erste ist die „industrielle Revolution“, die im 18. Jahrhundert begann und zur Mechanisierung der Produktion, zur Massenproduktion und zur Konservierung und Haltbarmachung von Lebensmitteln führte.
- Der zweite Meilenstein ist die „Grüne Revolution“ Mitte des 20. Jahrhunderts, in der die Entwicklung von landwirtschaftlichen Techniken und Werkzeugen, Hybridsaatgut und synthetischen Düngemitteln die Ernteerträge erheblich steigerte.
- Der dritte ist der Aufstieg der Fast-Food-Ketten und die Etablierung grosser Restaurantketten, die Mitte des 20. Jahrhunderts an Popularität gewannen und die Art und Weise veränderten, wie die städtische Bevölkerung an Lebensmittel gelangt und sie konsumiert.
- Der vierte schliesslich ist zeit genössisch. Er versucht, Produktivität und Wirtschaftlichkeit mit Nachhaltigkeit, Gesundheit und Transparenz in Einklang zu bringen. Diese Phasen veranschaulichen mehrere entscheidende Wendepunkte in der Geschichte der Lebensmittelindustrie und spiegeln Veränderungen in der Produktion, dem Vertrieb, den Konsummustern und den gesellschaftlichen Werten wider.
Handbefüllung von Bohnendosen in der Blue Island Libby-Fabrik, USA, sd., AL689, D.R. ©Alimentarium
Während der „industriellen Revolution“
Während der „industriellen Revolution“ wurde die Lebensmittelproduktion durch die Einführung von Dampfmaschinen und Maschinen in der Landwirtschaft sowie durch neue Techniken in der Lebensmittelverarbeitung geprägt. Diese Techniken steigerten die Produktivität der Bauernhöfe erheblich und erleichterten die Produktion in grossem Massstab. Im 19. Jahrhundert war die Entwicklung industrieller Verfahren zur Konservierung und Haltbarmachung von Lebensmitteln ein entscheidender Durchbruch.
Diese Innovationen spielten eine entscheidende Rolle, da sie die langfristige Lagerung und den effizienten Transport über grosse Entfernungen ermöglichten und so die Verluste eindämmten. Die Massenproduktion von verarbeiteten, konservierten oder verpackten Lebensmitteln hat den Verbrauchern nicht nur Bequemlichkeit und Erschwinglichkeit gebracht, sondern auch die Grundlage für den Aufstieg agroindustrieller Konglomerate und globaler Lieferketten gelegt.
Die Überlegungen zu ihren Auswirkungen auf die Gesundheit je nach Konsumverhalten und auf die Umwelt je nach Produktionstechniken führen jedoch in einigen Bereichen zu gemischten Betrachtungen. Die Verfügbarkeit verarbeiteter Lebensmittel und die Verbesserung der Konservierungsmethoden haben nicht immer ausgereicht, um die Ernährungssicherheit zu erhöhen. Sie haben jedoch die jahreszeitlichen Schwankungen in der Ernährung verringert und vorübergehend zu einer allgemeinen Verbesserung der Gesundheit und einer höheren Lebenserwartung in Westeuropa und Nordamerika beigetragen.
Die Seilbahn für die Nestle-Fabrik in Bercher, Schweiz, ca 1891, AL613, D.R. ©Alimentarium
Instruments de mesure et d’analyse au XXe siècle
Wissenschaft und Technik haben im 20. Jahrhundert viele Aspekte der globalen Lebensmittelindustrie revolutioniert. Das Aufkommen hochentwickelter Geräte wie „Chromatographen“, „Massenspektrometern“ und „rekombinanter DNA“-Techniken ermöglichte die genaue Analyse von Lebensmittelbestandteilen und führte zu potenziellen Fortschritten bei der Lebensmittelsicherheit und -qualität, der Standardisierung der Lieferketten von der Produktion bis zum Vertrieb und der Verschärfung von Vorschriften. Sensoren überwachen in Echtzeit alle Produktionsschritte von der Anlieferung der Zutaten bis zur Lagerung des Endprodukts und helfen so, Verluste zu minimieren und die Frische der Lebensmittel zu gewährleisten.
Die Lebensmitteltechnologie hat effizientere und nachhaltigere Verfahren entwickelt, um die weltweite Nachfrage zu decken und gleichzeitig die Auswirkungen auf die Umwelt zu verringern. Diese Fortschritte haben die Effizienz, die finanzielle Rentabilität und die Einhaltung immer höherer Sicherheits- und Qualitätsstandards verbessert. Wissenschaft und Technologie spielen daher eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der Lebensmittelindustrie, um Rentabilität, Innovation und Nachhaltigkeit miteinander zu verbinden.
Kontrolllabor zur Prüfung von Ketchup in der Fabrik von Libby Blue Island, Illinois, USA, 1935, AL685, D.R. ©Alimentarium
Die „Grüne Revolution“
Die „Grüne Revolution“ führte zwischen den 1960er und 1990er Jahren zu einer Steigerung der weltweiten Nahrungsmittelproduktion. Sie sollte dem drängenden Problem der Nahrungsmittelknappheit und der Hungersnöte in den Entwicklungsländern entgegenwirken. Durch die Einführung ertragreicher Nutzpflanzensorten, den verstärkten Einsatz hoch-leistungsfähiger landwirtschaftlicher Maschinen und den weit verbreiteten Einsatz von Pestiziden und synthetischen Düngemitteln konnten die Ernteerträge und die Produktivität der Nutzpflanzen deutlich gesteigert werden. Eine teilweise Stärkung der Ernährungssicherheit hat Millionen von Menschen aus Armut und von Hunger befreit.
Allerdings hatte diese Revolution auch problematischere Folgen, wie die zunehmende Abhängigkeit von Düngemitteln, Herbiziden und fossilen Brennstoffen für die Mechanisierung, die zu Umweltproblemen wie Bodendegradation, Wasserverschmutzung und dem Verlust der Artenvielfalt führten. Kleinbauern hatten mit den Kosten für die Einführung moderner Technologien zu kämpfen, wodurch die Ungleichheit zunahm und die traditionellen landwirtschaftlichen Praktiken drastisch reduziert wurden.
Während die Grüne Revolution ihr unmittelbares Ziel, die Nahrungsmittelproduktion zu steigern, erreicht hat, sind ihre langfristige Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit Gegenstand ständiger Debatten und Bemühungen, den agronomischen Fortschritt mit ökologischen und sozialen Erwägungen ins Gleichgewicht zu bringen.
Aussicht auf die Huaca Cao Viejo, Trujillo, La Libertad, Peru, 2013, ©Boris Wastiau
In Peru wurden im Zuge der „Grünen Revolution“ ertragreichere Zuckerrohrsorten eingeführt, die an der trockenen Pazifikküste mit Hilfe neuer Bewässerungsinfrastrukturen und dem Einsatz von Kunstdünger angebaut wurden. In den 1990er und 2000er Jahren wurden die Plantagen nach und nach von der Agrarindustrie aufgekauft, die von der Nahrungsmittelproduktion auf die Produktion von Biokraftstoffen umstellte.
Der Aufstieg der „Fast-Food-Ketten“ Mitte des 20. Jahrhunderts
Der Aufstieg der „Fast-Food-Ketten“ Mitte des 20. Jahrhunderts hat die Lebensmittelindustrie und die Essgewohnheiten weltweit verändert. Ihre Beliebtheit beruhte auf ihrer Bequemlichkeit, ihren erschwinglichen Preisen und ihrem effizienten Service, die dem Lebensstil der immer zahlreicher werdenden Stadtbewohner entsprachen, die heute weltweit die Mehrheit bilden. Durch die Standardisierung der Menüs, des Service und der Massenproduktionstechniken konnten diese Restaurantketten weltweit einheitliche und vertraute Mahlzeiten anbieten.
Bekannte Vorläufer dieses Phänomens sind die industriell hergestellten White Castle Hamburger, die bereits in den 1920er Jahren in den USA produziert und verzehrt wurden. Die Bequemlichkeit von Fast Food hat sich von den 1950er bis zu den 1990er Jahren in aufeinanderfolgenden Wellen auf Kosten von Ernährungstraditionen und kulinarischer Vielfalt über die Welt verbreitet. Der weit verbreitete und übermässige Verzehr dieser Küche wurde zudem mit negativen gesundheitlichen Folgen in Verbindung gebracht, insbesondere mit einer Zunahme von Fettleibigkeit und Diabetes.
Daher wächst die Besorgnis über die Auswirkungen von Fast Food auf das Wohlbefinden der Weltbevölkerung, und es werden Anstrengungen unternommen, um ein Gleichgewicht zwischen Bequemlichkeit und gesünderen und nachhaltigeren Optionen zu finden. Als Reaktion darauf hat sich auch ein neues Interesse an der Bewahrung des kulturellen Nahrungserbes herausgebildet, insbesondere unter dem Begriff „Slow Food“.
Burger King Leuchtreklame, Frankreich, ca 2000, AL10197, Luís Lourenço ©Alimentarium
Eine „auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Revolution“
Eine „auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Revolution“ erfasst heute die Lebensmittelindustrie. Sie zeichnet sich durch eine steigende Nachfrage nach gesunden, ökologisch und sozial verträglichen Lebensmitteln aus, die einen geringen CO2 Fussabdruck haben, wenig Abfall produzieren, die Umweltverschmutzung durch nicht recycelte oder nicht wiederverwertbare Verpackungen verringern und für ihre Herstellung möglichst wenig Wasser benötigen. Sich ändernde gesetzliche Rahmenbedingungen, globale Umwelt- und Gesundheitsbedenken und der Druck der Zivilgesellschaft tragen dazu bei. Die Verbraucherinnen und Verbraucher suchen nach natürlicheren Optionen, die die Umwelt und die Produzentinnen und Produzenten schonen.
Der Aufschwung pflanzenbasierter Diäten ist einer dieser bedeutenden Trends, angetrieben von gesundheitlichen und ethischen Erwägungen, da die Öffentlichkeit zunehmend wachsam gegenüber den Auswirkungen des Fleischkonsums auf die Umwelt ist. Der Schwerpunkt liegt auf der Transparenz des Lebensmittelsystems, da die Verbraucher Informationen über ethische Aspekte sowie die Bedingungen und Methoden der Lebensmittelproduktion wünschen.
Diese Entwicklung stellt einen transformativen Wandel in der Lebensmittelindustrie dar, die einen ganzheitlicheren Ansatz verfolgt und versucht, ihre Wirtschaft mit dem Wohlergehen des Einzelnen, der Gemeinschaft und des Planeten in Einklang zu bringen.