«Arm, aber sexy», so beschreibt auf 2003 der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit die bundesdeutsche Hauptstadt. Der Berliner Atlas 2013 zur Sozialstruktur der Stadt zeigt: Die Spaltung Berlins in arm und reich verfestigt sich. Reiche Stadtteile wie Charlottenburg und Zehlendorf bleiben wohlhabend. Die von jeher ärmeren Kieze wie Marzahn-Hellersdorf und Spandau bleiben arm, ihre Bewohner haben weniger Bildung, werden öfter krank und sterben früher, so das zugespitzte Fazit des Berliner Tagesspiegel.
Armut ist freilich ein relativer Begriff, und verhungern muss in Berlin heute niemand mehr. Aber geringes Einkommen und Bildungsarmut gehen oft einher mit schlechter Ernährung. Frisches Obst und Gemüse, gar in Bioqualität, sind eher seltene Gäste auf den Tellern der sozial Schwachen.
Das müsste aber nicht sein. In jüngster Zeit machen verschiedene Berliner Initiativen mobil gegen die Verschwendung von Lebensmitteln, die noch geniessbar sind und nicht selten aus biologischer Produktion stammen. Privathaushalte und Supermärkte stellen ausgemusterte Lebensmittel zur Verfügung. In öffentlichen Kühlschränken wird Ausschussware gelagert. Und schlecht gewachsenes Gemüse, das aus der Norm fällt, wird von taffen Frauen in einem Spezialladen verkauft. Da tut sich was!
Lebensmittel gehören auf den Tisch, nicht in die Tonne
Hinter der 2012 von Raphael Fellmer gegründeten bundesweiten Initiative «Lebensmittelretten.de» steht die Idee, Lebensmittel, die in Bio-Supermärkten aussortiert werden, vor der Mülltonne zu retten und kostenlos weiterzugeben. Inzwischen gibt es feste Kooperationen mit zahlreichen Berliner und Hamburger Bio-Supermärkten, die ihre aussortierten Waren zur Verfügung stellen, sowie allein in Berlin rund 1500 Lebensmittelretter. Verteilt werden die geretteten Lebensmittel über die Internet-Plattform «Foodsharing.de». Das vom Filmemacher Valentin Thurn (Taste The Waste, 2011) gegründete Netzwerk ermöglicht es Privatpersonen wie Ladenbesitzern bundesweit, über eine interaktive Datenbank nicht verbrauchte Lebensmittel – mit Ausnahme von verderblichen Waren wie Frischfleisch, Fisch oder Eier – kostenlos abzugeben oder zu tauschen. Anbieter können einen Warenkorb einrichten. Wer Lebensmittel sucht, findet auf einer Landkarte die eingestellten Angebote und kann sie nach Kontaktaufnahme abholen. Laut der jüngsten Statistik sind die Berliner vor Köln und München mit 220 Tonnen geretteter Lebensmittel Spitzenreiter unter den Foodsharing-Aktivisten. Die Lebensmittelretter arbeiten auch mit der Berliner Obdachlosenhilfe zusammen. Diese bereitet aus dem Wegwerf-Gemüse und -Obst jeden Mittwoch sowie an den Wochenenden eine Mahlzeit für bis zu 250 Personen.
Daneben stehen im Berliner Stadtgebiet über 20 Kühlschränke, sogenannte Fairteiler. Zwei davon sind öffentlich und rund um die Uhr zugänglich, die restlichen befinden sich in privaten Geschäften. Dort können Lebensmittel eingestellt werden, die in privaten Haushalten nicht verbraucht werden, weil etwa ein Urlaub ansteht, aus Versehen Lauch statt Lauchzwiebeln gekauft wurde oder plötzlich drei Päckchen Butter im WG-Kühlschrank liegen. Das Angebot wird von alten und jungen Berlinern rege genutzt, und sogar Touristen wurden an den kalten Rettungsstellen schon gesichtet.