Frischmilch ist in den Städten lange kein üblicher Handelsartikel gewesen. Auf dem Bauernhof diente Milch der Jungviehaufzucht. Nur die überschüssige Milch wurde auf dem Hof zu Butter und Käse weiterverarbeitet und lokal verkauft. In den Städten wurde der geringe Bedarf an Frischmilch von Ställen innerhalb des Burgfriedens befriedigt, oder man besorgte sich die benötigten Mengen bei stadtnah gelegenen Bauern. Grundsätzlich war Milch damals ein Getränk für Kleinkinder und zählte nicht zur Alltagskost von Erwachsenen. Nur als medizinisch verordnete Diät, etwa bei Lungentuberkulose, genoss man frische Milch oder Molke. Bis in die 1930er-Jahre galt der Milchgenuss – ähnlich wie der Fleischkonsum – als Zeichen von Wohlhabenheit. Milch, Sahne, Butter und Hartkäse waren Güter, die vom Speisezettel verschwanden, wenn gespart werden musste. Unvorstellbar war der Milchgenuss für Männer. Man wolle kein Milchbart sein, murrte das starke Geschlecht, als die bürgerliche Abstinenzbewegung begann, nach Alternativen für den Alkoholkonsum zu suchen.
Der Genuss von Trinkmilch etablierte sich erst nach 1870 – auf Basis eines ganz neuen Produktions- und Vertriebssystems, bestehend aus Bauern, Molkereien, Milchhändlern und weiterverarbeitender Industrie. Ein Grund dafür lag im Wachstum der Städte. Urbanisierung und Bevölkerungswachstum führten in ganz Europa zu einem Kollaps traditioneller Formen der Nahrungsmittelversorgung. Im Unterschied zu Getreide konnte ein sensibles Naturprodukt wie Milch nicht über weite Strecken transportiert werden. Seiner kommerziellen Nutzung standen Hygiene- und Frischhalteprobleme im Wege. Dennoch entwickelte sich der Handel mit Frischmilch während der Hochphase der Industrialisierung zu einem äusserst lukrativen Geschäft. Kostete 1865 ein Liter Milch in Berlin ungefähr zehn Pfennige, waren es zehn Jahre später bereits ca. 15 Pfennige und zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg sogar 18 bis 20 Pfennige.
Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts war eine zunehmende Differenzierung im Milchgeschäft bemerkbar: Bäuerinnen oder Milchhökerinnen, die mit ihren Kannen auf den Märkten standen, wurden wegen unlauteren und unhygienischen Verkaufgebarens verdrängt und durch sogenannte Milchniederlagen oder Milchläden ersetzt. Immer öfter lieferten Milchmänner einem festen Kundenstamm die frische Milch per Pferdewagen bis an die Türe. Die Geschäftstüchtigsten unter ihnen gründeten sogenannte Abmelkwirtschaften, die radikalste Form der zunehmend produktorientiert arbeitenden Landwirtschaft. Sobald die Kühe keine Milch mehr gaben, wurden sie durch neue ersetzt. Es wurden weder Butter und Käse produziert noch interessierte man sich für die Nachzucht. Zur gleichen Zeit verdrängte der Landhunger der Industrie die Bauernhöfe an die Peripherie, was nicht nur längere Transportwege zur Folge hatte, sondern auch die Preise für Butter und Käse drückte. Verständlicherweise versuchte jeder Bauer daher, am allgemeinen Frischmilchboom teilzuhaben.