Was ist Neurogastronomie?
Es lohnt, intensiv über Nahrung nachzudenken – das lehrt uns die Neurogastronomie.
Es ist zwar nicht alles Gold, was glänzt, aber alles, was wir essen, regt die fünf Sinne und das Gehirn an. ©Shutterstock/80’s Child
Was macht eine Speise aussergewöhnlich? Diese Frage lässt sich nicht objektiv oder wissenschaftlich exakt beantworten. Sind es die Zutaten, der meisterliche Koch, das überraschende Wagnis, ein angenehmes Ambiente... Wir spüren, dass sich der Essensgenuss ebenso wie andere Vorlieben nicht analysieren lässt und von Unerklärlichem abhängt – einer Art ‚Magie des Herdes‘. Oder anders gesagt: Wissenschaft und Küche gehen verschiedene Wege.
Die Anfänge der Neurogastronomie
Dennoch sind beide Disziplinen heute eng verbunden. Schon 1825 publizierte Jean Anthelme Brillat-Savarin das vielgelesene Buch Die Physiologie des Geschmacks. Brillat-Savarin, von Beruf Richter, kann mit Recht als Vordenker der „Neurogastronomie“ bezeichnet werden. Er sah eine Wissenschaft des Geschmacks voraus, da er erkannte, dass menschliche Ernährung eine weit über die reine Überlebensicherung hinausgehende Funktion hat. Der Genuss einer guten Mahlzeit wirkt ins Soziale, reicht ins Sexuelle und fördert Entdeckerlust. Zwar kannte der Autor weder Psychologie noch Neurowissenschaft, die zu seiner Zeit noch nicht existierten. Doch sah er, dass Essen das Denken lenkt: „Sie [Anm. d. Red. die Gastronomie] prüft auch die Wirkung der Narhungsmittel auf das Moralische des Menschen, auf seine Phantasie, seinen Witz, seine Urtheilskraft, seine Thatkraft und seine Vorstellungen im Zustande des Wachens wie des Schlafens, der Thätigkeit wie der Ruhe.“1
Vom Herd ins Gehirn
Wie wir gegessen haben (gut, schlecht, viel, wenig oder... gar nicht), beeinflusst unser Verhalten, unsere Stimmung und unsere Entscheidungen. Das ist so offensichtlich, dass man die Wirkung von Essen kaum hinterfragte. Eine Untersuchung israelischer Gerichtsurteile ergab, dass nach der Mittagspause milder gerichtet wurde als davor2, was gut erklärt wird im Sinnspruch Brillat-Savarins: „Sie sahen, dass der satte Mensch ein ganz anderer ist als der nüchterne [...]“3
Tatsächlich konnten Forscher ermitteln, was Nahrung im Gehirn bewirkt, indem sie einen Hungrigen im Computertomographen Bilder und Düfte köstlicher Speisen aussetzten. Die Ergebnisse sind spektakulär, es scheint, als ob dann das gesamte Gehirn bei der Aussicht auf Nahrung in Wallung gerät: Bis zu 24% mehr Stoffwechselaktivität löst das erregte Gehirn aus – unter anderen Versuchsbedingungen nur 1 bis 2%4. Das könnte den aktuellen Trend zu „Food-Porn“ oder „Gastropornografie“ erklären, d.h. das Fotografieren von Speisen, um die Fotos mit „Foodies“ in sozialen Netzwerken zu teilen.
Was begründet eigentlich den Geschmack eines Lebensmittels, ein Begriff, der verwendet wird, wenn es um seine emotionalen, lustbetonten Eigenschaften geht – z.B. die Fähigkeit einer Speise oder eines Getränks, ein angenehmes Gefühl hervorzurufen, also wohlschmeckend zu sein. Hier kämpfen die Forscher mit der allgemeinen, recht vieldeutigen Verwendung des Begriffes Geschmack. Er assoziiert den (physiologischen) Geschmackssinn, der sich nach der Einteilung der fünf Sinne von Aristoteles vom Geruchs-, Tast-, Seh- und Hörsinn unterscheidet; andererseits geht der „Geschmack“, d.h. die gustatorischen Eigenschaften eines Lebensmittels, über die simple Aktivierung der Geschmacksrezeptoren auf der Zunge hinaus: Sie unterscheiden die fünf Geschmacksrichtungen süss, salzig, bitter, sauer und umami, die später hinzugekommen und für die japanische Küche sowie Glutamat typisch ist. Bereits Brillat-Savarin stellte fest, dass „Geschmack“ in diesem Sinn am ehesten dem Geruch entspricht. Denn bei der Bewertung von Speisen und Getränken arbeiten Nase und Zunge eng zusammen. Um aus der Begriffsfalle herauszukommen, verwenden Fachleute das englische flavour, um diese (unter anderem, wie wir später sehen werden...) auf Geruchs- und Geschmackssinn beruhende Wahrnehmung von Lebensmitteln zu bezeichnen.
Geburt der modernen Neurogastronomie
Diese Feststellung führte den Neurobiologen Gordon Shepherd 2006 zum Terminus Neurogastronomie5, der nicht nur die Sinne und ihre Wahrnehmung im Gehirn, sondern alle neurobiologischen Mechanismen zur Erkennung und Bewertung von flavours, einschliesslich ihrer Aussagen zu menschlichem Verhalten und ihrer Anwendung in der Küche bezeichnet.
Die Neurogastronomie siedelt also flavour nicht im Lebensmittel, sondern im Gehirn an. Ihr zweites Prinzip ist die Multimodalität, die ausser Geruchs- und Geschmackssinn auch die anderen Sinne einbezieht, selbst die Motorik. Bereits Brillat-Savarin betonte: Geschmack wird uns nicht passiv gegeben, sondern wir selber sind es, die ein Stück vom Teller aufgabeln, zum Mund führen, kauen, geniessen, schlucken und bewerten. So entstehen, wie Shepherd sie nennt, „Geruchsbilder“ im Gehirn, „geistigen Bildern“ ähnlich, die Gesichter zu erkennen und Orte vorzustellen ermöglichen. Ferner gibt es – entsprechend der Beeinträchtigung von Sehen, Sprache oder Gedächtnis bei neurologischen Schäden – das weniger bekannte Krankheitsbild von gestörtem Esssverhalten bei Gehirnverletzungen.
Nichts lässt sich einfacher entscheiden, als „schmeckt gut“ oder „schmeckt schlecht“. Dennoch sind diese Eindrücke das Ergebnis eines komplexen Prozesses, den wir jetzt erst langsam verstehen, weil ihm eine psychologische Illusion zugrunde liegt. Denn Geschmacksempfindungen entstehen nicht, wie angenommen, im Mund, sondern in der Nasenhöhle durch die unbewusste, retronasale Geruchswahrnehmung. Beim Riechen oder Schnuppern führen wir Lebensmittel zur Nase und atmen ein – die sogenannte orthonasale Geruchswahrnehmung. Doch erst nachdem beim Kauen eines Bissens Säfte und Moleküle im Mund freigesetzt wurden, leitet das Ausatmen die Geruchspartikel durch den hinteren Rachen in die Nasenhöhle. Am oberen Höhlenrand sitzt die besondere Riechschleimhaut. Sie trägt für Geruchspartikel empfindliche Nervenzellen, die mit dem Riechkolben verbunden sind – und schon befinden wir uns mitten im Schädel, dem Gehirn!
Der Riechkolben sammelt alle von den Rezeptorzellen der Riechschleimhaut gesendeten Signale und speichert sie als zerebrales Aktivierungsmuster ab: es entsteht eine Geruchs-„Karte“ oder ein Geruchs-„Bild“ der Geruchspartikel eines Bissens. Der Riechkolben leitet diese Karte an andere Gehirnbereiche; so an die für Emotionen zuständige Amygdala und den präfrontalen Cortex oberhalb der Augen, einen typischen Integrationsbereich. Hier treffen sie auf Wahrnehmungen anderer sensorischer Systeme – Sehsinn, Tastsinn (inklusive Informationen aus dem Mund wie Temperatur und Konsistenz von Lebensmitteln), Geschmackssinn (der einen anderen Weg nimmt als der Geruch), Empfindungen aus den Eingeweiden, homöostatische Prozesse, die Hunger und Durst regulieren – sowie aus den Kontrollregionen von Gedächtnis, Emotionen, Hemmmungen und Entscheidung. Zusammengefasst: Wie es das Beispiel von Prousts Madeleine zeigt, treffen hier physische Geruchspartikel auf die Identität einer Person. Deshalb ist ein Aroma niemals ‚neutral‘, sondern immer kontextuell, abhängig vom visuellen Eindruck, von persönlichen Vorlieben, Appetit, Stimmung, Überzeugungen und Erinnerungen jedes Einzelnen.
Dieser komplexe hierarchische Prozess bleibt für uns undurchschaut, bewirkt aber, dass wir meinen, unsere Wahrnehmung von Essen stamme ganz aus dem Mund, dem Ort, wo Speise oder Getränk abgelegt werden, während sie grossteils tatsächlich aus der Nasenhöhle kommt. Es geht dabei aber nicht um eine physiologische Kleinigkeit, sondern um einen Trick der Evolution, denn für das Überleben darf nicht alles gegessen werden. Das Gehirn muss schliesslich den Muskeln des Mundes befehlen, was sie auswerfen oder schlucken sollen!
Von der Neurogastronomie bis zur Gastrophysik
Alles schön und gut, doch hilft es, ein perfektes Risotto zuzubereiten oder die besten Häppchen auszusuchen? Das ist ein Kritikpunkt gegen Shepherds Neurogastronomie. Ein tieferes Verständnis der für die Wahrnehmung von flavours zuständigen neurophysiologischen Prozesse ist unverzichtbar für das Verständnis der Mechanismen, die in der Gastronomie zentral sind – z.B. indem sich zeigt, warum Geruch wichtiger ist als Geschmack, auch wenn sie untrennbar bleiben, und wie flavours von allen Sinnen des Organismus, von Stimmungen und sogar von Überzeugungen beeinflusst werden. So lässt sich im Gehirn erkennen, wie der Preis einer Flasche Wein deren Bewertung beeinflusst, oder warum uns ein Brausegetränk mit dem Etikett seines Konkurrenten ‚hereinlegt‘.
Dieses Wissen allein lässt sich jedoch noch nicht in leckere Rezepte umsetzen, auch wenn Miguel Sánchez Romera, zugleich Neurologe und Chefkoch, kürzlich in Manhattan ein Restaurant der „Neurogastronomie“ eröffnete6. Allgemein hat die Neurowissenschaft eher weniger Einfluss auf die Gastronomie als Physik oder Chemie mit der „Molekularküche“. Diese Bewegung trat erstmals 1992 bei einem Wissenschaftskongress zur Eiermayonnaise auf. Sie wollte einerseits die Tricks aus Grossmutters Zeiten wissenschaftlich erklären und verbessern, andererseits neue Verfahren einbeziehen wie die„Sphärisierung“, Begasung, Konzentrierung, Destillierung und thermische Schockbehandlung, die gefallen, überraschen oder beeindrucken sollten7. Das aber ist alles andere als ‚neuro‘.
Deshalb zog der britische Psychologe Charles Spence den Ausdruck Gastrophysik vor, um die Variablen zu benennen, die in allen Facetten zum empfundenen Speisegenuss beitragen. Eine neue „Tisch-Wissenschaft“ also, die durch experimentelle Trennung und Veränderung die Faktoren quantitativ messen will, die beim Empfinden von flavours als Einheit auftreten.
Multimodalität auf dem Menüplan
Spence meint, „Neurogastronomie“ enge als Begriff Beobachtungen und Anwendungen ein8. Er hält es für nötig, näher an erlebten Geschmackserfahrungen und an der Realität der modernen Gastronomie zu forschen, als die Riechkolben von Nagetieren zu untersuchen oder Menschen im Computertomografen Flüssigkeiten durch Schläuche zu verabreichen. Sein doppeltes Ziel ist: die Komplexität unserer Beziehung zu flavours und Ernährung besser zu verstehen, darzustellen, wie sich die Sinne von Individuen unterscheiden, wie sie untereinander interagieren und von äusseren Faktoren beeinflusst werden; zweitens, dieses Wissen für neue kulinarische Konzepte, neue Rezepte, neues Marketing zu nutzen. Angewandt eröffnen diese Forschungen neue Möglichkeiten zur Behandlung von Essstörungen, zur Eindämmerung der Fettleibigkeit heute, für die Entwicklung des Geschmackssinns bei Kindern oder für die Seniorenbetreuung, also immer dann, wenn die Wahrnehmung von flavours, von Hunger oder Durst gestört ist.
Ein volles Programm! Aktuell versuchen Spence und seine Mitarbeiter, darunter Sterneköche wie Heston Blumenthal mit seinem Restaurant The Fat Duck nahe bei London9, zu zeigen, wie Lebensmittelfarben, Begleitmusik, Kaugeräusche, Form, Gewicht oder Farbe von Geschirr, Namen und Preis von Menüs, Dressingauswahl und weitere Faktoren das Urteil über die flavours und den Essgenuss beeinflussen. Diese Versuche erforschen multimodale Wahrnehmungen; sie waren bisher mehr mit dem Zusammenspiel von Seh-, Tast- und Hörsinn befasst und ignorierten Geschmacks- und Geruchssinn.
Neuere Forschungen widmen sich den Erwartungen der Gäste und der Frage, an welche Grenze man Überraschungseffekte treiben kann. Wer lässt sich zu einem Lachs-Sorbet verleiten? Die Umstände müssen stimmen und die Bereitschaft für Überraschungen gegeben sein! Schmeckt der Meeresfrüchteteller auf der Strandterrasse genossen nicht besser? Blumenthal lässt mittels Kopfhörer beim Essen das Geräusch von Brandung und Möwen erklingen – ein „super-additive Interaktion“ genanntes Erlebnis: stimmt ein Geschmack mit dem assoziierten Ambiente überein, verstärkt er sich.
Nennen wir es „sensorisches Design“. Es überlässt nichts dem Zufall im Wissen, dass das Gehirn durch bewusste oder unbewusste Informationen eine Mahlzeit beeinflussen oder verfälschen kann. Es beruft sich auf den präfrontalen Cortex, wo Wahrnehmungen, Erwartungen, Überzeugungen und Urteile zusammenlaufen.
Die Zukunft des Degustierens
Werden uns diese „gastrophysischen“ Forschungen einmal die „perfekte Mahlzeit“ servieren, wie Charles Spence hofft? Trifft das noch die normalen Bedürfnissen von Menschen, die nicht immer die Mittel für aussergewöhnliche Restaurantbesuche haben? Vielmehr wird zurzeit geprüft, die wachsende, globalisierte multikulturelle Bevölkerung angesichts ökologischer und ökonomischer Sorgen gesund zu ernähren. Zweifellos muss sich die wissenschaftliche Gastronomie auch mit diesen Fragen auseinandersetzen, denn Veränderungen unserer Ernährung und Vorlieben sind unvermeidlich.
Vom Supermarktregal zum Guide Michelin: Wissenschaftler, Gastronomen und Köche müssen mehr kooperieren, um in unsicherer Zukunft die Bedürfnisse aller zu befriedigen. Selbst wenn es stimmt, dass die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Gastronomie schon allseits beleuchtet wurde, ist nicht zu vergessen, dass die Küche schon immer wie ein Forschungsinstitut ein Labor war für Kreativität, Ausprobieren und Entdecken. Von einer neuen Sossenkreation bis zum Verpackungsdesign kann ein wissenschaftlicher, interdisziplinärer Ansatz helfen, alle Glieder der langen Kette menschlicher Ernährung zu rationalisieren und zu verbessern, bis zu jenem entscheidenden Augenblick, an dem die Menschen sich zusammensetzen, um eine gute Mahlzeit zu teilen.